Schon der erste Blick ins Buch lässt eine andere Sichtweise auf Taiwan vermuten. Denn die Karte im Vorsatz ist nicht nach Norden ausgerichtet, sondern nach Südosten. So liegt der Inselstaat Taiwan innerhalb einer langen Inselkette vor der Küste Chinas. „Ilha formosa!“, also „Schöne Insel“, soll ein portugiesischer Seefahrer beim Anblick der Hauptinsel Taiwan ausgerufen haben. Formosa blieb lange Zeit ihr inoffizieller Name. Offiziell heißt der Inselstaat Republic of China, das sagt aber kaum jemand. Taiwan ist halb so groß wie Österreich, doch dort leben rund 23 Millionen Menschen. Einer von ihnen ist seit 15 Jahren der Journalist und Autor Klaus Bardenhagen.
Zitat: Als Journalist wäre es unredlich, würde ich so tun, als stünde ich unbeteiligt zwischen den Fronten. Betroffen sind auch meine taiwanische Familie, meine Nachbarn, all die Menschen, die dieses Land lebenswert machen und es noch besser machen möchten. Sie haben dem KP-Regime in Peking nichts getan. Doch dessen Machtversessenheit bedroht ihr Leben, zu allermindest ihren Lebensstil.
Die Kapitel in diesem Buch sind als Fragen formuliert, die der Autor kenntnisreich und oft sehr persönlich beantwortet. Zunächst beschäftigt sich Klaus Bardenhagen mit aktuellen Entwicklungen, die das kleine Taiwan im Schatten der Weltmacht China erst kürzlich ins Bewusstsein der westlichen Welt gebracht haben: Einerseits der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und andererseits ein Besuch der damaligen Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August desselben Jahres. Der Ukraine-Krieg veränderte alles, schreibt Klaus Bardenhagen.
Zitat: Dem Westen wurde bewusst, dass aus dem Säbelrasseln eines autoritären Staates tatsächlich ein Krieg gegen einen kleineren, demokratischen Nachbarn werden kann. Hunde, die bellen, können eben doch beißen.
Mit dem Besuch Pelosis verschärfte sich die Situation zwischen Taiwan und China.
Zitat: Sobald Pelosi nach nicht einmal 24 Stunden wieder abgeflogen war, begann Chinas Militär groß angelegte Manöver. Sperrzonen im Meer rund um Taiwan markierten, wo Geschosse einschlagen konnten. Kriegsschiffe gingen in Position, noch mehr Kampfflugzeuge als sonst üblich stiegen auf. Fünf Tage lang herrschte rund um Taiwan Ausnahmezustand.
Zum Glück waren das nur Drohgebärden, die jedoch zeigten, wie sensibel China reagiert, sobald andere Länder sich mit Taiwan solidarisch zeigen. Tatsächlich sind ständig Tausende Raketen auf die Insel gerichtet, China feilt an Plänen für eine Invasion, in einem militärischen Gebiet nahe der Grenze zur Mongolei sind Straßenzüge rund um den Amtssitz des Präsidenten maßstabsgetreu nachgebaut worden. Soldaten üben dort die Erstürmung der Gebäude. Erstaunlicherweise nehmen die Taiwaner*innen das alles ziemlich gelassen.
Zitat: Mediennutzern kann leicht entgehen, dass die meisten Taiwaner Peking eben nicht den Gefallen tun, Angst zu haben. Ihr Alltag verläuft nach 2022 so normal wie zuvor – aber das lässt sich schwieriger darstellen. Unbeirrt weiterzuleben und sich nicht verrückt machen zu lassen, das ist eigentlich schon ein kollektiver Akt des Widerstands gegen Pekings Einschüchterungskampagnen.
Sorgen macht sich der Autor, der seine Recherchen zu diesem Buch im April abgeschlossen hat, bezüglich der US-Wahl. Sollte es Donald Trump schaffen, nochmals gewählt zu werden, schaue es für Taiwan schlecht aus. Es ist zu hoffen, dass sich die US-Amerikaner doch anders entscheiden. Prinzipiell hat das Land einen gewaltigen Trumpf in der Hand: es ist weltweit führend in der Chip-Herstellung und sei daher für den Westen weitaus wichtiger als die Ukraine, so der Autor. Doch nicht alles ist gut in Taiwan: Das Land ist in vielen Bereichen auf Gastarbeiter*innen – vor allem aus Indonesien, Vietnam und den Philippinen – angewiesen. Deren Behandlung ist schlecht, Alltagsrassismus und Ungleichbehandlung gibt es auch in Taiwan.
Zitat: Eigentlich sollten die Taiwaner ihren südostasiatischen Nachbarn, die zum Schuften kommen, also dankbar sein. Doch tatsächlich bestimmt meist nicht Herzlichkeit den Umgang mit Gastarbeitern. Man gesteht ihnen das Nötigste zu und lässt sie immer wieder spüren, dass sie als schwächstes Glied in der Kette keine Ansprüche zu stellen haben.
Umso mehr Taiwan seine hausgemachten Probleme verschleppe, desto leichter werde es China haben, fasst Klaus Bardenhagen zusammen. Dennoch: Taiwan ist eine landschaftlich beeindruckende Insel, die wirtschaftlich gut dasteht. Mit Menschen, die sich ihre Demokratie erkämpft und gelernt haben, mit der Bedrohung von Seiten Chinas zu leben. Eine schöne Idee in diesem Buch sind die kurzen Zusammenfassungen jedes Kapitels mit dem Untertitel „Warum es wichtig ist“. Die generelle Antwort auf diese Frage ist einfach: Um diese Insel in all ihren Facetten zu verstehen.