Die Macht des Radios.

Das Lieblingsradio Ö1 feiert "100 Jahre Radio". Ein tolles Jubiläum - und ich bin auch schon seit einem Vierteljahrhundert dabei! Vergangene Woche wurde der historische Moment - die erste RAVAG-Sendung ging am 1. Oktober 1924 gegen halb fünf Uhr on air - mit einem Festkonzert gefeiert. Auch das Ö1-Magazin "gehört" widmet sich dem Schwerpunkt. Und eine schöne Publikation versammelt Hunderte Radiomomente (auch meinen).

Für die Sendereihe Dimensionen habe ich drei Sendungen gebastelt. Es geht um die Macht, die das Radio gesellschaftspolitisch haben kann. Einer meiner Interviewpartner, der in allen drei Sendungen vorkommt, ist der Historiker Stefan Benedik vom HdGÖ, mit dem ich bei diesem Projekt ein bisschen zusammengearbeitet habe. Im HdGÖ wird es ab Jänner eine Radio-Ausstellung geben, bereits jetzt gibt es dort einiges zu entdecken.

Teil 1 am 7. Oktober 2024 um 19.05 Uhr: Grândola, Vila Morena: Wie ein Lied die Nelkenrevolution anstimmte

Radio überwindet Grenzen – physische genauso wie ideologische. Als am 25. April 1974 im portugiesischen Radio das Protestlied "Grândola, Vila Morena" gespielt wird, verlassen die Militärs ihre Quartiere und marschieren nach Lissabon. Es ist das vereinbarte Zeichen für den Beginn der Revolution. Stunden später ist die verhasste, von Verhaftungen, Repressionen und Folter geprägte Diktatur zu Ende. 

Screenshot der Jubiläums-Homepage.

Ich habe Lissabon im April zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution besucht, um die Stimmung einzufangen und ein paar Interviews aufzunehmen. Die Historikerin Irene Pimentel, die unermüdlich über die Zeit der Diktatur publiziert, erinnert sich an die Nacht vom 24. auf den 25. April 1974. Sie war damals 23 Jahre alt, politisch aktiv und gerade mit Freunden unterwegs, um Plakate gegen den Unabhängigkeitskrieg in der Stadt anzukleben. Als sie am Radiosender "Radio Clube Portugues" vorbeifahren, ahnen sie nicht, dass dieser bereits von Putschisten besetzt ist. Die Gefahr für die jungen Leute, verhaftet zu werden, ist also sehr gering. "Es war der Beginn eines neuen Lebens", sagt Irene Pimentel in meiner Sendung. 

Copyright Centro de Documentacao 25 de Abril
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Der heute 80-jährige Journalist Adelino Gomes war vom 50 Jahren mittendrin. Er schummelt sich in den von Militärs abgesperrten Bereich, erzählt er in einem langen Interview auf Rádio Renascença, aus dem ich Ausschnitte in meiner Sendung verwende. "Sag denen, ich bin Journalist!", ruft Adelino Gomes einem Freund zu. Er darf passieren, dabei "hatte ich nicht einmal einen Kugelschreiber dabei." Seine Reportage geht in das kollektive Gedächtnis der Portugies*innen ein. Und das, obwohl sie erst am nächsten Tag und stark gekürzt gesendet wird... Ohne das Radio als Werkzeug für Koordination, Mobilisierung und Information wäre die Nelkenrevolution vermutlich weniger erfolgreich gewesen. 

Adelino Gomes interviewt Hauptmann Salgueiro Maia. Copyright RCCerveira

Emotional ist der traditionelle Gedenkmarsch am 25. April dieses Jahres in Lissabon, den ich während meiner Ö1-Dienstreise natürlich auch besuche. Ein paar Wochen zuvor hatte bei den Wahlen die ultra-rechte Partei "Chega" ("Es reicht") extreme Gewinne eingefahren. Der Marsch wird zur eindrücklichen Demonstration für Frieden und Demokratie. 220.000 Menschen gehen auf die Straße, singen gemeinsam "Grândola, Vila Morena", jenes Lied, das im Radio als Signal für den Beginn der Nelkenrevolution gespielt wurde.

Per Zufall treffe ich meine ehemaligen Mitbewohnerinnen aus Porto, Mariana und Joana, mitten am Rossio-Platz.

Teil 2 am 14. Oktober 2024 um 19.05 Uhr: Radio Free Europe: Wie die Demokratie hinter den Eisernen Vorhang funkte

Copyright RFE/RL
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Dass Radiowellen nicht so leicht aufzuhalten sind, machen sich ab den 1950er Jahren auch der US-Geheimdienst CIA und der US-Kongress zu Nutze, als "Radio Free Europe" (RFE) von München aus in die kommunistischen Staaten in Osteuropa funkt. Ziel ist es, den Menschen dort unzensierte und unabhängige Nachrichten zu bieten. Ab den frühen 1950er Jahren arbeitet in der Pariser Redaktion die Tante des Autors Ernst Strouhal ("Vier Schwestern"), Susanne Benedikt. Sie besticht durch Intelligenz und Charme und arbeitet sich zur stellvertretenden Redaktionsleiterin hinauf. Ernst Strouhal besucht sie mehrmals und ist von der Atmosphäre in der Redaktion fasziniert.

Susanne Benedikt (später verh. Ouvadia) in Paris. Copyright Ernst Strouhal

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In der damaligen Tschechoslowakei wird RFE von vielen Oppositionellen gehört – auch wenn die Regierung den Funkverkehr immer wieder mit Störsendern einzuschränken versucht. Der 73-jährige Journalist Petr Brod, den ich an einem heißen Tag im österreichischen Kulturinstitut in Prag treffe, ist damals ein Bub, er erzählt, dass der Radioempfang am Land – wo viele Menschen eine kleines Wochenendhäuschen hatten – viel besser war. Daher wurde fleißig am Häuschen und im Garten gearbeitet: "Und dabei konnte man sehr schön die westlichen Sender hören." RFE sucht auch nach anderen Wegen, seine Botschaften hinter den Eisernen Vorhang zu schicken: Ballons werden mit Flugblättern befüllt. Eine Botschaft lautet: "Tyranny cannot control the winds."

Später dokumentiert RFE die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 - viele fliehen daraufhin ins Exil, auch Petr Brod - und die Samtene Revolution im Jahr 1989. 

Zu diesem Bild schrieb mir Petr Brod (zweiter von rechts): "Das muss 1989 gewesen sein, das war das einzige Jahr, in dem ich Krawatte getragen habe." Copyright Petr Brod

Petr Brod kehrt nach Prag zurück und arbeitet ab 1990 als erster ständiger RFE-Korrespondent, sein erster Einsatz ist die Pressekonferenz der Rolling Stones, die Mitte August 1990 im Prager Strahov-Stadion auftreten. Die tschechische Journalistin Lída Rakušanová erlebt die Tage der Befreiung hautnah in der Münchener Zentrale. „Ich war am richtigen Tag am richtigen Ort und habe es nicht vermasselt. Das war ein gutes Gefühl“, sagt sie, als ich sie in ihrer Prager Wohnung besuche.

Lída Rakušanová in der Redaktion in München. Copyright Josef Rakusan

Radio Free Europe gibt es noch immer. Die Zentrale ist heute in Prag. Ich besuche das schwer bewachte Gebäude, in dem 700 Journalist*innen, viele von ihnen Dissident*innen, in 23 Länder senden. Ein beeindruckender Betrieb. Ich bekomme eine Führung durchs Haus und lerne den Chef der russischen Redaktion, Andry Shary, kennen. Ein schöner Abschluss meiner Ö1 Dienstreise

Teil 3 am 21. Oktober 2024 um 19.05 Uhr: Hate Radio: Mit Hassparolen zum Völkermord in Ruanda

1994, Ruanda: Im Radio spielt RTML coole Popmusik, der Moderator ist lässig und aufgekratzt. Der beliebte Sender wird im ganzen Land gehört. Doch zwischen Rock-Nummern und Blues-Balladen wird die Volksgruppe der Hutu aufgerufen, die Tutsi – die als "Kakerlaken" bezeichnet werden – umzubringen. Innerhalb weniger Wochen werden 800.000 Menschen getötet. Ancilla Umubyeyi hält sich zum Zeitpunkt des Genozids gerade in Österreich auf. Sie lebt noch heute mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern hier. Ich besuche sie in ihrer Wohnung, bekomme ruandische Limonade serviert. Doch das Thema, über das wir sprechen, ist tragisch, immer wieder kämpft meine Interviewpartnerin mit den Tränen. Ancilla Umubyeyi verliert im April 1994 fast ihre ganze Familie. Ihre Eltern kann sie später in der Stadt Kigali begraben: "Von meinem Bruder wissen wir nicht, wo er gestorben ist. Wir haben ihn nicht gefunden."

Szenenbild aus dem französischen Theaterstück: Von rechts nach links an den Mikrofonen Georges Ruggiu (Sébastien Foucualt), Valérie Bemeriki (Bwanga Pilipili) und Kantano Habimana (Diogène Ntarindwa). Copyright IIPM

Vor rund zehn Jahren beschäftigte sich Milo Rau, Theatermacher und Leiter der Wiener Festwochen, mit der ruandischen Geschichte. Er fand französische Transkripte der Radiosendungen und gestaltete daraus ein Theaterstück. Die Rollen der offen zu Gewalt aufrufenden RTLM-Moderator*innen spielen Überlebende des Genozids. Das deutschsprachige Hörspiel "Hate Radio", in dem deutsche Radiomoderator*innen die Hauptrollen spielen, verstört durch seine Direktheit und zeigt die Notwendigkeit, Hetze und Hassrede in den Medien zu verhindern. In meiner Sendung verwende ich Ausschnitte aus dieser ORF/WDR Koproduktion aus dem Jahr 2013.

Die Erinnerung an den Tutsi-Genozid in Ruanda ist außerhalb Afrikas verblasst. Das Künstlerpaar Bele Marx und Gilles Mussard gestalteten zum 30. Jahrestag im April dieses Jahres am Wiener Yppenplatz eine virtuelle Gedenkstätte. Via QR-Code kann man diesen Raum betreten und hunderte Namen von ermordeten Tutsi lesen und hören. In Zukunft soll der virtuelle Raum überall auf der Welt aufrufbar sein.

Copyright Bele Marx und Gilles Mussard

Alle drei Dimensionen Sendungen sind nach der Ausstrahlung ein halbes Jahr als Ö1-Podcast nachzuhören.