40 Jahre Nelkenrevolution - was gibts zu feiern?



JournalPanorama, 22. April 2014

In den 1970er-Jahren war Portugal eine der letzten Diktaturen Westeuropas. António Salazar und sein Nachfolger Marcelo Caetano führten ein strenges Regime mit Repressionen, Zensur, Verhaftungen und Folter. Ein Buch, ein Lied und eine Blume änderten das: Am 25. April 1974 führte die Nelkenrevolution zum Putsch. Am kommenden Freitag jährt sie sich zum 40. Mal. Und gerade heute ist die Erinnerung an jene Tage im April 1974 besonders lebendig: Portugal erlebt eine schwierige Zeit, muss harte Sparmaßnahmen setzen, um finanzielle Unterstützung Europas zu bekommen. Die Werte, die damals hochgehalten wurden, sind heute aktuell wie nie, in der Krise hat der Geist der Revolution die Portugiesen erneut ergriffen. Woran erinnern sich die Portugiesen, wenn sie an den 25. April denken? Und was ist geblieben von den Träumen und Wünschen von damals?

"Portugiesisches Volk, es ist ein historischer Moment, den wir heute erleben: es ist der Tag der Befreiung unserer Heimat." Diese Ansprache vom 25. April 1974 löste in ganz Portugal Jubel aus. Mehr als 40 Jahre Diktatur waren zu Ende. 

Ein Blick zurück: Seit den frühen 1930er-Jahren war Portugal nicht nur geografisch am Rand Europas isoliert. António de Oliveira Salazar - zunächst Finanzminister, aber wegen seines Talents rasch einer der wichtigsten Männer im Staat - hatte sich schließlich bis an die Regierungsspitze hinaufgearbeitet und baute seine Macht aus. Der Diktator verkündete eine neue Verfassung, das Parlament wurde abgeschafft. Die Presse wurde zensuriert, Andersdenkende wurden verhaftet und gefoltert oder des Landes verwiesen. Es gab keine Gewerkschaften, die Machthaber hielten. das Volk bewusst arm, unwissend und rückständig, rund ein Drittel der Portugiesen konnte weder lesen noch schreiben. Orgulhosamente sós seien die Portugiesen, also stolz auf ihr Alleinsein, dieses Zitat wird Salazar zugeschrieben. Das Land hielt sich im Zweiten Weltkrieg zurück, es blieb von den Alliierten unangetastet. 1949 war Portugal Gründungsmitglied der NATO, der Kommunismus wurde zum Feindbild. Ende der 1960er-Jahre wurde Salazar von Marcelo Caetano abgelöst, am Charakter der Diktatur änderte sich jedoch kaum etwas. Das Regime blieb an der Macht, bis zum 25. April 1974, dem Tag der Nelkenrevolution.
Wer über diesen speziellen Tag etwas erfahren will, der muss in die Universitätsstadt Coimbra fahren, mit dem Zug sind es von Lissabon zwei Stunden in Richtung Norden. Ins Dokumentationszentrum über den 25. April 1974. In dem rotgestrichenen zweistöckigen Gebäude stapeln sich Kartons vom Keller bis unter das Dach. Das Zentrum wurde 1984, also 10 Jahre nach der Revolution gegründet, und es beherbergt heute das größte Archiv zu den Ereignissen. Immer wieder bringen die Menschen Fundstücke aus jener Zeit. Es gibt Tondokumente, wie Radiosendungen –und Ausschnitte der wichtigsten Verlautbarungen und Ansprachen. Tausende Fotografien, Zeitungen, Aufkleber und Plakate.

Über all diese Schätze wacht Rui Bebiano, Direktor des Dokumentationszentrums und Geschichtsprofessor an der Universität:
"Unsere kostbarsten Archivstücke sind all die Nachrichten, die in jener Nacht vom Kommando der revolutionären Streitkräfte verwendet und verschickt wurden: Skizzen und Entwürfe, Aufzeichnungen und Pläne, und die vielen verschiedenen Code-Namen. Das ist alles selbstverständlich handgeschrieben, damals gab es ja noch keine Computer. Sie wissen ja, das waren streng geheime und vertrauliche Informationen, die durften nicht einmal mit der Schreibmaschine geschrieben werden, sondern nur mit der Hand."

Zu Zeiten der Diktatur brodelte es im Untergrund bereits lange, vor allem aber seit dem Beginn der Kolonialkriege in Afrika, also seit Anfang der 1960er-Jahre. Ausgehend von den Kapverdischen Inseln und Guinea-Bissau entwickelten sich Unabhängigkeitsbewegungen, die von Portugal unterdrückt wurden. Der Mythos vom Weltreich war in Gefahr:
"Portugal war ja ein riesiges Reich, viel, viel größer als das Mutterland. In den Volksschulen wurde uns beigebracht, dass Angola die größte der Kolonien war. Brasilien, das noch viel größer ist, war ja schon lange unabhängig.  Und sie erzählten uns Kindern - als wäre es unglaublich wichtig - dass nämlich Angola 14-einhalb Mal so groß ist wie das kontinentale Portugal. Gemeinsam mit Mosambik, São Tomé, Kap Verde, Timor, Guinea-Bissau und so weiter, war Portugal natürlich riesig. In den Schulen hingen Landkarten, da war Europa zu sehen und daneben die Kolonien. Wir lernten, dass das Kolonialreich Portugal größer war als ganz Europa."

Die Kriege in den damaligen Kolonien sollten die Diktatur stärken, hatten aber in großen Teilen der Bevölkerung den gegenteiligen Effekt: 
"Gerade weil der Krieg ein Argument FÜR die Regierung sein sollte, und natürlich auch aus diversen politischen Gründen der linken Opposition, entwickelte sich der Kolonialkrieg schließlich zu einem zentralen Element GEGEN das Regime. Und zwar in zweierlei Hinsicht: man war nicht nur gegen das Regime an sich, sondern gegen den Krieg. Aus guten Gründen: Portugal hatte damals weniger Einwohner als heute, also ungefähr neun Millionen. Und in den Kriegen waren so im Durchschnitt - mal waren es mehr, mal weniger – aber im Schnitt waren in den Kolonien 150.000 Soldaten stationiert. 150.000 Soldaten! Das sind unglaublich viele für so ein kleines Land. Das ist eine ganz einfache Rechnung. Und der Kolonialkrieg dauerte 13 Jahre!
Und dann kommt noch etwas dazu: Portugal war, wie gesagt, ein sehr kleines Land mit relativ wenigen Soldaten. Daher hat das Regime den Wehrdienst einfach verlängert und er dauerte damals zumindest drei Jahre. Das provozierte eine unglaubliche Unzufriedenheit im Volk, alle hatten ja Pläne für ihr Leben. Und von denen, die in den Krieg zogen, kamen viele nicht zurück. Sie starben in den Kolonien. Und noch viel mehr wurden verwundet, nicht nur körperlich. Das war traumatisch."

Die politische Opposition, vor allem die Kommunisten und die Sozialdemokraten schlugen sich auf die Seite der Unabhängigkeitsbewegungen. Es entstand ein Netzwerk aus kleinen Untergrundorganisationen, mit konspirativen Treffen, heimlichen Druckereien von Flugblättern, verdeckten Aktionen, sagt Rui Bebiano:
"In der politischen Opposition gab es natürlich konspirative Gruppen, die der strengsten Geheimhaltung unterlagen, so wie es sie in vielen totalitären Regimes gegeben hat, mit ähnlichen Regeln und Grundsätzen. Es waren also keine offenen Organisationen oder Parteien. Sie hatten sehr starre Strukturen. Eine besondere Eigenschaft war – und das ist für fast alle Geheimbünde wesentlich -, dass nicht jeder jeden kannte. Man kannte nur einen Mittelsmann, der wiederum mit der nächsten Ebene der Gruppe in Kontakt stand, und so weiter. Vom Mittelbau bis zur Führungsspitze. So war eben die Struktur dieser vielen kleinen Widerstandbewegungen."

Im Februar 1974 veröffentlichte der stellvertretende Generalstabschef António de Spínola, nach dem Diktator der zweihöchste Mann in der Militärhierarchie, ein Buch mit dem Titel Portugal e o Futuro, Portugal und die Zukunft, in dem er die Isolation Portugals anprangerte und das Recht der Portugiesen auf politische Mitbestimmung und das Recht der Kolonien auf Selbstbestimmung forderte. Für das MFA, o Movimento das Forças Armadas, auf Deutsch die Bewegung der Streitkräfte, war das Buch wegweisend. General Spínola wurde zwar entmachtet, die Protestbewegung jedoch erhielt deutlichen Zulauf. Viele bisher regimetreue Militärs liefen zum MFA über. Als Kommunikationsmittel besonders wichtig war in dieser Zeit das Radio:
"Das Radio war wesentlich. Denn übers Radio kommunizierten die Mitglieder der Bewegung der Streitkräfte, die ja die portugiesische Revolution ins Rollen brachten. Über die internen Kanäle war das damals bereits sehr schwierig, die wurden ständig überwacht und daher schickte man die verschlüsselten und daher nicht sofort für jedermann erkennbaren Botschaften eben über das Radio."

24. April 1974: Kurz vor elf Uhr abends wird im Radio das Lied Depois do Adeus gespielt. Ein unauffälliges Liebeslied. Es ist das erste verabredete Signal. Die aufständischen Truppen und die Soldaten in den Kasernen machen sich bereit.

25. April 0 Uhr 20: Das zweite Signal: Grândola, Vila morena, ein von der Zensur verbotenes Protestlied. Land der Brüderlichkeit, heißt es da, und: es ist das Volk, das regiert.
Es ist das Zeichen für den Beginn des bewaffneten Aufstandes. Die Truppen schwärmen aus, besetzen Ministerien, den Flughafen und die Rundfunk- und Fernsehsender. Hektisch werden die Positionen per Funk durchgesagt. Im Radio wird die Bevölkerung aufgerufen, Ruhe zu bewahren und in den Häusern zu bleiben. Kaum einer hält sich aber daran, die Straßen sind voller Menschen. Diktator Marcelo Caetano verschanzt sich mit ein paar Getreuen in einer Kaserne am Largo do Carmo in Lissabon. Ein Reporter interviewt den Offizier Salgueiro Maia, der erklärt, die Kaserne sei umstellt, man wisse aber nicht genau, wer sich drinnen aufhalte und wie weiter vorgegangen werden soll. Während des Gesprächs fallen Schüsse, schnell ducken sich die Reporter. Es wird aber niemand verletzt. Die Belagerung dauert bis in die Abendstunden, ein Ultimatum verstreicht, und wieder wird geschossen. Dann plötzlich kommt Bewegung in der Menge. General António Spínola trifft ein, Diktator Marcelo Caetano kapituliert und übernimmt die Regierung an Spínola. Sieg! Sieg!, rufen die Menschen auf der Straße. 18 Stunden nach den vereinbarten Radio-Signalen ist die Diktatur in Portugal Geschichte, am späten Abend des 25. April sind die einzigen Toten dieser Revolution zu beklagen, vier Menschen werden bei der Erstürmung eines Stützpunktes der Geheimpolizei PIDE erschossen.

Dennoch ist der 25. April 1974 als friedliche, unblutige Revolution in die Geschichte eingegangen. Als Revolução dos Cravos, als Nelkenrevolution. Rui Bebiano vom Dokumentationszentrum in Coimbra erzählt: 
"Das ist eine schöne Geschichte: Eine Frau, die Nelken verkaufte, bot einem Soldaten eine ihrer Blumen an. Oder vielleicht hat er sie auch gekauft, man weiß es nicht genau und es ist auch nicht wichtig. Jedenfalls kamen andere Soldaten dazu, sie scherzten mit den Blumenverkäuferinnen und steckten die Nelken in ihre Gewehrläufe. Immer mehr Soldaten haben dabei mitgemacht. Damals gab es ja schon Fernsehen und am nächsten Tag, also am 26. April, war die rote Nelke bereits im ganzen Land zum Symbol der Revolution geworden.  Die Nelke eignet sich ja gut: sie ist erstens eine wirklich schöne Blume, sie ist nicht aggressiv – eine Rose mit ihren Dornen wäre als Metapher ja nicht so ideal – und dann ist da noch die rote Farbe, die gab dem Ganzen natürlich auch noch eine zusätzliche Symbolik."

In ganz Portugal herrschte Hochstimmung, in den darauffolgenden Tagen kamen politische Gefangene frei und zahlreiche Intellektuelle kehrten aus dem Exil in ihre Heimat zurück.

Doch wo steht Portugal heute, 40 Jahre später? Das einstmals so mächtige Weltreich mit seinen Kolonien auf beinahe allen Kontinenten ist wieder auf seine ursprüngliche Größe geschrumpft. Politisch wechseln sich fortschrittliche Kräfte mit konservativen ab. Die Wirtschafts- und Finanzkrise traf Portugal voll, sie führte zu harten Einschnitten und Konsequenzen. Im Frühjahr 2011 schlüpfte Portugal unter den Euro-Rettungsschirm, die Troika, das Kontrollgremium, das aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission besteht, ist seither das Feindbild Nummer Eins. Denn um den Staatshaushalt auszugleichen, wurden Jobs abgebaut, Steuern erhöht, Löhne und Gehälter gekürzt. Die Arbeitslosigkeit lag im Vorjahr bei rund 16 Prozent, bei den jungen sogar bei über 35 Prozent.

Einer, der damals in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat, ist Mário Soares. Zwei Tage nach der Nelkenrevolution kam der Gründer der sozialistischen Partei Portugals aus dem Exil zurück, er wurde erster Außenminister der jungen Republik. Heuer wird Soares 90 Jahre alt. Er sei stolz darauf, damals dabei gewesen zu sein, erzählt er beim Gespräch in der nach ihm benannten Stiftung in Lissabon. Er habe die Entkolonialisierung vorangetrieben und die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten unterstützt. Später wurde Soares dann Premierminister und von 1986 bis 1996 Staatspräsident, heute geht er mit der aktuellen liberal-konservativen Regierung unter Ministerpräsident Pedro Passos Coelho hart ins Gericht: 
"Es ist wirklich traurig. Denn so viele Portugiesen gehen fort, die klügsten und besten Köpfe verlassen das Land, das ist schlecht. Die Regierung zerstört die Ausbildung an unseren Universitäten, die großartig sind, sie gehören zu den besten der Welt! Und jetzt macht die Regierung alles kaputt: die Universitäten, die Schulen, das staatliche Gesundheitssystem. In unserem Land passieren derzeit die schlimmsten Dinge. Und dabei ist Portugal kein kleines Land, so wie viele denken. Unsere Landesgrenzen gibt es seit Jahrhunderten, die haben sich nie geändert, und jetzt lassen wir uns unser Land kaputt machen? Sicher nicht, das dürfen wir nicht zulassen."

Es sind die alten Menschen, die unter den Kürzungen leiden, und die ganz jungen. Viele sehen nach dem Studium im eigenen Land keine Zukunft, sie suchen im Ausland ihr Glück. Portugiesische Krankenschwestern arbeiten in Großbritannien, portugiesische Ingenieure in Angola.
Und es war wieder ein Lied, das ähnlich wie "Grândola, vila morena" damals in der Nacht der Nelkenrevolution, genau den Nerv der Zeit traf. Que parva que sou (Wie blöd ich doch bin) wurde zur Hymne der Jugendlichen.
Ich gehöre zur Generation ohne Lohn und beschwere mich nicht einmal - wie blöd ich doch bin.
So singt Ana Bacalhau von der Gruppe Deolinda. Den Erfolg dieses Liedes hat sie genauso wenig vorhergesehen wie ihre Bandkollegen, sehr emotional sei das gewesen, als sie den Song erstmals sangen, sagt sie. Vor zwei Jahren war das, bei Konzerten in Lissabon und kurz darauf in Porto. Seither wiederholen sich die Szenen immer wieder: Jubel und Applaus für ein einfaches Lied, in dem es aber offenbar genau um das geht, was die portugiesische Jugend beschäftigt, wenn sie an die Zukunft denkt: Trostlosigkeit, Frust und Ärger. Ana Bacalhau hat das Gefühl, dass heutzutage Werte wieder in Frage gestellt werden, für die damals rund um die Nelkenrevolution hart gekämpft wurde: 
"Ich werde immer für diese Ideale kämpfen, die heute wieder angezweifelt werden. Für mich sind die Maßnahmen rund um die Wirtschaftskrise die Wurzel allen Übels, man will uns wirtschaftliche Grundsätze aufzwingen und damit Werte wie Menschlichkeit oder Würde ersetzen. Wirtschaft ist wichtig, das wissen wir und das wird auch immer so sein, aber sie muss sich immer unterordnen und darf nicht andere unterwerfen."
Und der Gitarrist Luis Martins fügt hinzu:  
"Es ist eigentlich unglaublich und enorm wichtig, dass ein Lied vom gesellschaftlichen Standpunkt her noch diese revolutionäre Funktion haben kann.  Es dauert zwei, drei Minuten und schafft es in dieser kurzen Zeit, das Publikum wachzurütteln und in seinen Bann zu ziehen. Dass es möglich ist, durch ein Lied die Menschen zum Nachdenken zu bringen und zum Drüber-Reden! Das ist sehr wichtig, weil wir sind ja alle besorgte Bürger. "
Ich gehöre zur Generation, die nicht mehr weiter weiß. Und dann denke ich nach: Wie blöd ist diese Welt, in der ich studiere, nur um danach wie ein Sklave zu schuften. (Liedzeile Que parva que sou)

Ein anderer portugiesischer Musiker, der Superstar des Fado, Camané, sieht das ähnlich. Der 25. April 1974 sei für ihn und seine Familie immens wichtig gewesen, er selbst war damals noch ein Kind. Und er wäre nicht derjenige, der er heute ist, davon ist Camané überzeugt: 
"Ich war damals neun, fast zehn Jahre alt. Das Datum bedeutet mir sehr viel. Von 75 bis in die 80er-Jahre hat sich so viel verändert in den portugiesischen Städten. Wir waren frei, wir durften endlich alles sagen, was wir dachten. Ich hatte das Glück, damals aufzuwachsen. Alles war im Wandel, alles entwickelte sich, die Schulen, die Ausbildung, die Kultur. Viele Dinge kamen auf, die vorher nicht möglich gewesen wären. Ich hatte das Glück, in einem freien Land aufzuwachsen. Das ist das Wichtigste."
Und genau daran müssten sich die Portugiesen erinnern, an all das, was sie in den 1970er-Jahren erkämpft haben. "Wir erleben eine schwere Zeit, in vielen Bereichen. Deshalb müssen wir uns erinnern. An den 25. April und alles, was damals passiert ist. Weil heutzutage ist die Politik in vielem rückwärts gerichtet. Diese neuen Gesetze, die verabschiedet werden – manchmal wirkt das, als würden wir in die 60er-Jahre zurückkehren.  Das schafft ein Klima der Intoleranz, der Homophobie. Und das betrifft nicht nur einige wenige. Das betrifft uns alle. Wenn es keine Toleranz gibt, dann werden wir uns bald wieder gegenseitig bespitzeln und der Nachbar wird ganz genau beobachten, mit wem du nach Hause kommst."
Camané hält sich mit politischer Kritik nicht zurück.

Doch wer in Portugal mit den Menschen über Politik spricht, über die Diktatur und ob es sich lohne, die Nelkenrevolution zu feiern, jetzt 40 Jahre danach, bekommt ab und zu den Eindruck, so mancher würde das Rad der Zeit gerne zurückdrehen. Salazar, der Diktator, sei doch gar nicht so übel gewesen, es habe Arbeit für alle gegeben, man sei zufrieden gewesen. Ins Mikrophon will das allerdings dann doch keiner sagen.
Der Journalist Manuel Halpern erklärt beim Mittagessen in einem überfüllten kleinen Restaurant in einer Lissabonner Seitenstraße, warum das so ist: 
"Diese Meinung hat es immer schon gegeben, nicht nur jetzt in der Krise. Diese Nostalgie war ja auch Teil der Strategie des Regimes, um Dinge, die passierten, vor dem Volk zu verheimlichen. In Afrika starben die Soldaten und hier wurde darüber nicht berichtet. Im Gegensatz zu anderen Diktaturen hielt Salazar sein Volk anders unter Kontrolle: die Menschen waren arm, nicht nur finanziell, und Salazar entschied, was sie wissen sollten und was nicht. Sie sollten sich nicht politisch interessieren, damit sie die Strategien des Regimes nicht durchschauten. Und die Leute machten mit. Viele Alte trauern dieser Zeit nach, weil sie damals eben keine Sorgen hatten und sich um nichts kümmern mussten, und es ihnen jetzt viel schlechter geht.Sie denken einfach nicht nach und dann reden sie diesen Blödsinn daher."
Manuel Halpern wurde zwei Monate vor der Nelkenrevolution geboren, und auch wenn er sie nicht bewusst miterlebt hat, sei es doch ganz wichtig, diesen Tag immer wieder zu erinnern:
"Wir müssen immer wieder den Geist jener Zeit und jener Revolution aufleben lassen. Damit wir erkennen, dass das Volk die Macht hat, für seine Rechte zu kämpfen. Außerdem geht es darum nicht zu vergessen, dass wir uns nicht von Politikern täuschen lassen dürfen, die ständig ihre Wahlversprechen nicht halten."

Für die älteren Menschen in Portugal ist die derzeitige Situation tatsächlich hart. Sie tragen einen Großteil der Sparlast und müssen mit gravierenden Pensionskürzungen leben. Der tägliche Einkauf im Supermarkt reißt tiefe Löcher ins Haushaltsbudget. Für dieses ältere Paar, das am Bahnhof auf den Regionalzug wartet, ist der 25. April aber dennoch ganz wichtig, sie sagt:
"Das war der Tag der Freiheit, nicht wahr? Naja, heute ist alles sehr schwierig."
Und er ergänzt:
"Ich erinnere mich gut an den 25. April. Damals gab es noch für alle Arbeit, heute ist das nicht mehr so. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet und heute haben nicht einmal mehr die Jungen genug Arbeit."

Zurück in die ehrwürdige Universitätsstadt Coimbra, ins Dokumentationszentrum über die Nelkenrevolution. Zurück zu Direktor Rui Bebiano und seinen Zeitzeugen, den Zeitschriften, Tondokumenten und Fotografien. Als Universitätsprofessor beschäftigt sich Rui Bebiano seit vielen Jahren mit dem historischen Erbe Portugals. "Wir müssen uns darauf besinnen, was wir durch die Revolution gewonnen haben und auch darauf, was in all den Jahren nicht geschehen ist. Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir damals in einer nicht-demokratischen Gesellschaft lebten, in einem Regime voller Angst und Krieg, mit großen sozialen Unterschieden, ohne Gleichberechtigung von Mann und Frau, wo die jungen Manschen nichts zu sagen hatten und es keine Gesundheitsversorgung gab. Die Schulpflicht galt damals gerade einmal vier Jahre, heute sind es zwölf Jahre. Und wer auf der Universität studieren wollte, musste sehr viel mehr dafür zahlen als heute. Wir müssen also darüber nachdenken, was für ein Land Portugal früher war und was es heute ist: Nämlich eine Demokratie - mit all ihren Fehlern und trotz aller Schwierigkeiten."

In wenigen Wochen wird in Portugal wieder gewählt: die Portugiesen sind wie alle anderen Europäer aufgerufen, ihre Vertreter im EU-Parlament zu bestimmen. Portugal wurde 1986 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und profitierte vor allem in den 1990er-Jahren von Förderungen, ausgebaut wurde in erster Linie die Infrastruktur. Die Nelkenrevolution sei der erste Schritt in Richtung Europa gewesen, ist Rui Bebiano überzeugt: 
"Wir dürfen nicht vergessen, dass Portugal am 25. April 1974 erstmals zu einer internationalen Gemeinschaft gehörte, die Jahrhunderte als Kolonialreich zählen da ja nicht mehr. Nach dieser Revolution wurde Portugal zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Platz in der Welt zuteil, der ihm als demokratischem Staat innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft zu viel Respekt verholfen hat. Auch wenn wir viel lernen mussten."

In den 40 Jahren seit dem Ende der Diktatur war tatsächlich viel zu tun. Denn Portugals Wirtschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Rückschläge einstecken müssen: Nach der Nelkenrevolution war das Land ein beliebter Standort für die Produktion arbeitsintensiver Waren wie Schuhe und Textilien, und auch Siemens, Bosch und Volkswagen verlegten ihre Fabriken nach Portugal. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Ost-Öffnung gab es jedoch billigere Standorte, viele große Firmen wanderten ab. In vielen Bereichen verpasste das Land den internationalen Anschluss. Demnächst soll Portugal die letzte Tranche aus dem Rettungspaket erhalten, 1,2 Milliarden Euro von insgesamt 26 Milliarden seit 2011. Im Juni will das Land finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen. Die Hoffnung ist groß und Anzeichen dafür, dass sich das kleine Land wieder aufrappelt, gibt es bereits: Im zweiten Halbjahr des Vorjahres ist die Wirtschaft wieder gewachsen, die Importe sinken, die Exporte steigen, Portugal erwirtschaftete erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder einen Überschuss im Außenhandel. Die Arbeitslosigkeit sinkt langsam und im Tourismus gab es ein Rekordjahr.

Heute definiert sich Portugal einerseits als Teil Europas, als Teil einer Gemeinschaft, mit all ihren Rechten und Pflichten. Andererseits besinnt sich das kleine Land wieder seines kolonialen Erbes, Brasilien ist einer der wichtigsten Handelspartner, interessant sind auch die ehemaligen Kolonien in Afrika, allen voran Angola. 40 Jahre nach der Nelkenrevolution scheint Portugal die Welt offen zu stehen, ob es die Chancen nutzt, werden die nächsten Jahrzehnte zeigen.