In den 1970er-Jahren war Portugal eine der letzten Diktaturen
Westeuropas. António Salazar und sein Nachfolger Marcelo Caetano führten ein
strenges Regime mit Repressionen, Zensur, Verhaftungen und Folter. Ein Buch,
ein Lied und eine Blume änderten das: Am 25. April 1974 führte die
Nelkenrevolution zum Putsch. Am kommenden Freitag jährt sie sich zum 40. Mal.
Und gerade heute ist die Erinnerung an jene Tage im April 1974 besonders
lebendig: Portugal erlebt eine schwierige Zeit, muss harte Sparmaßnahmen setzen,
um finanzielle Unterstützung Europas zu bekommen. Die Werte, die damals
hochgehalten wurden, sind heute aktuell wie nie, in der Krise hat der Geist der
Revolution die Portugiesen erneut ergriffen. Woran erinnern sich die Portugiesen, wenn sie an den 25. April denken?
Und was ist geblieben von den Träumen und Wünschen von damals?
"Portugiesisches Volk, es ist ein historischer Moment, den wir heute
erleben: es ist der Tag der Befreiung unserer Heimat." Diese Ansprache vom 25. April 1974 löste in ganz Portugal Jubel aus. Mehr
als 40 Jahre Diktatur waren zu Ende.
Ein Blick zurück: Seit den frühen 1930er-Jahren war Portugal nicht nur
geografisch am Rand Europas isoliert. António de Oliveira Salazar - zunächst
Finanzminister, aber wegen seines Talents rasch einer der wichtigsten Männer im
Staat - hatte sich schließlich bis an die Regierungsspitze hinaufgearbeitet und
baute seine Macht aus. Der Diktator verkündete eine neue Verfassung, das Parlament
wurde abgeschafft. Die Presse wurde zensuriert, Andersdenkende wurden verhaftet
und gefoltert oder des Landes verwiesen. Es gab keine Gewerkschaften, die
Machthaber hielten. das Volk bewusst arm, unwissend und rückständig, rund ein
Drittel der Portugiesen konnte weder lesen noch schreiben. Orgulhosamente
sós seien die Portugiesen, also stolz auf ihr Alleinsein, dieses Zitat
wird Salazar zugeschrieben. Das Land hielt sich im Zweiten Weltkrieg zurück, es
blieb von den Alliierten unangetastet. 1949 war Portugal Gründungsmitglied der
NATO, der Kommunismus wurde zum Feindbild. Ende der 1960er-Jahre wurde Salazar
von Marcelo Caetano abgelöst, am Charakter der Diktatur änderte sich jedoch
kaum etwas. Das Regime blieb an der Macht, bis zum 25. April 1974, dem Tag der
Nelkenrevolution.
Wer über diesen speziellen Tag etwas erfahren will, der muss in die
Universitätsstadt Coimbra fahren, mit dem Zug sind es von Lissabon zwei Stunden
in Richtung Norden. Ins Dokumentationszentrum über den 25. April 1974. In dem
rotgestrichenen zweistöckigen Gebäude stapeln sich Kartons vom Keller bis unter
das Dach. Das Zentrum wurde 1984, also 10 Jahre nach der Revolution gegründet, und es
beherbergt heute das größte Archiv zu den Ereignissen. Immer wieder bringen die
Menschen Fundstücke aus jener Zeit. Es gibt Tondokumente, wie Radiosendungen –und Ausschnitte der wichtigsten
Verlautbarungen und Ansprachen. Tausende Fotografien, Zeitungen, Aufkleber und
Plakate.
Über all diese Schätze wacht Rui Bebiano, Direktor des
Dokumentationszentrums und Geschichtsprofessor an der Universität:
"Unsere kostbarsten Archivstücke
sind all die Nachrichten, die in jener Nacht vom Kommando der revolutionären
Streitkräfte verwendet und verschickt wurden: Skizzen und Entwürfe,
Aufzeichnungen und Pläne, und die vielen verschiedenen Code-Namen. Das ist
alles selbstverständlich handgeschrieben, damals gab es ja noch keine Computer.
Sie wissen ja, das waren streng geheime und vertrauliche Informationen, die durften
nicht einmal mit der Schreibmaschine geschrieben werden, sondern nur mit der
Hand."
Zu Zeiten der Diktatur brodelte es im Untergrund bereits lange, vor allem
aber seit dem Beginn der Kolonialkriege in Afrika, also seit Anfang der
1960er-Jahre. Ausgehend von den Kapverdischen Inseln und Guinea-Bissau
entwickelten sich Unabhängigkeitsbewegungen, die von Portugal unterdrückt
wurden. Der Mythos vom Weltreich war in Gefahr:
"Portugal war ja ein riesiges
Reich, viel, viel größer als das Mutterland. In den Volksschulen wurde uns
beigebracht, dass Angola die größte der Kolonien war. Brasilien, das noch viel
größer ist, war ja schon lange unabhängig. Und sie erzählten uns Kindern - als wäre es
unglaublich wichtig - dass nämlich Angola 14-einhalb Mal so groß ist wie das
kontinentale Portugal. Gemeinsam mit Mosambik, São Tomé, Kap Verde, Timor,
Guinea-Bissau und so weiter, war Portugal natürlich riesig. In den Schulen
hingen Landkarten, da war Europa zu sehen und daneben die Kolonien. Wir
lernten, dass das Kolonialreich Portugal größer war als ganz Europa."
Die Kriege in den damaligen Kolonien sollten die Diktatur stärken, hatten
aber in großen Teilen der Bevölkerung den gegenteiligen Effekt:
"Gerade weil der Krieg ein Argument
FÜR die Regierung sein sollte, und natürlich auch aus diversen politischen
Gründen der linken Opposition, entwickelte sich der Kolonialkrieg schließlich
zu einem zentralen Element GEGEN das Regime. Und zwar in zweierlei Hinsicht:
man war nicht nur gegen das Regime an sich, sondern gegen den Krieg. Aus guten
Gründen: Portugal hatte damals weniger Einwohner als heute, also ungefähr neun
Millionen. Und in den Kriegen waren so im Durchschnitt - mal waren es mehr, mal
weniger – aber im Schnitt waren in den Kolonien 150.000 Soldaten stationiert. 150.000
Soldaten! Das sind unglaublich viele für so ein kleines Land. Das ist eine ganz
einfache Rechnung. Und der
Kolonialkrieg dauerte 13 Jahre!
Und dann kommt noch etwas dazu:
Portugal war, wie gesagt, ein sehr kleines Land mit relativ wenigen Soldaten. Daher
hat das Regime den Wehrdienst einfach verlängert und er dauerte damals zumindest
drei Jahre. Das provozierte eine unglaubliche Unzufriedenheit im Volk, alle
hatten ja Pläne für ihr Leben. Und von denen, die in den Krieg zogen, kamen
viele nicht zurück. Sie starben in den Kolonien. Und noch viel mehr wurden
verwundet, nicht nur körperlich. Das war traumatisch."
Die politische Opposition, vor allem die Kommunisten und die
Sozialdemokraten schlugen sich auf die Seite der Unabhängigkeitsbewegungen. Es
entstand ein Netzwerk aus kleinen Untergrundorganisationen, mit konspirativen Treffen,
heimlichen Druckereien von Flugblättern, verdeckten Aktionen, sagt Rui Bebiano:
"In der politischen
Opposition gab es natürlich konspirative Gruppen, die der strengsten
Geheimhaltung unterlagen, so wie es sie in vielen totalitären Regimes gegeben
hat, mit ähnlichen Regeln und Grundsätzen. Es waren also keine offenen
Organisationen oder Parteien. Sie hatten sehr starre Strukturen. Eine besondere
Eigenschaft war – und das ist für fast alle Geheimbünde wesentlich -, dass
nicht jeder jeden kannte. Man kannte nur einen Mittelsmann, der wiederum mit
der nächsten Ebene der Gruppe in Kontakt stand, und so weiter. Vom Mittelbau
bis zur Führungsspitze. So war eben die Struktur dieser vielen kleinen Widerstandbewegungen."
Im Februar 1974 veröffentlichte der stellvertretende Generalstabschef
António de Spínola, nach dem Diktator der zweihöchste Mann in der
Militärhierarchie, ein Buch mit dem Titel Portugal e o Futuro, Portugal und die Zukunft, in dem er die Isolation Portugals
anprangerte und das Recht der Portugiesen auf politische Mitbestimmung und das
Recht der Kolonien auf Selbstbestimmung forderte. Für das MFA, o Movimento
das Forças Armadas, auf Deutsch die Bewegung der
Streitkräfte, war das Buch wegweisend. General Spínola wurde zwar
entmachtet, die Protestbewegung jedoch erhielt deutlichen Zulauf. Viele bisher
regimetreue Militärs liefen zum MFA über. Als Kommunikationsmittel besonders
wichtig war in dieser Zeit das Radio:
"Das Radio war wesentlich.
Denn übers Radio kommunizierten die Mitglieder der Bewegung der Streitkräfte,
die ja die portugiesische Revolution ins Rollen brachten. Über die internen
Kanäle war das damals bereits sehr schwierig, die wurden ständig überwacht und
daher schickte man die verschlüsselten und daher nicht sofort für jedermann
erkennbaren Botschaften eben über das Radio."
24. April 1974: Kurz vor elf Uhr abends wird im Radio das Lied Depois do Adeus gespielt. Ein unauffälliges Liebeslied. Es ist das erste verabredete Signal. Die aufständischen Truppen und die
Soldaten in den Kasernen machen sich bereit.
25. April 0 Uhr 20: Das zweite Signal: Grândola, Vila morena, ein von der Zensur verbotenes Protestlied. Land der Brüderlichkeit, heißt es da, und: es ist das Volk, das regiert. Es ist das Zeichen für den Beginn des bewaffneten Aufstandes. Die Truppen schwärmen aus, besetzen Ministerien, den Flughafen und die Rundfunk- und Fernsehsender. Hektisch werden die Positionen per Funk durchgesagt. Im Radio wird die Bevölkerung aufgerufen, Ruhe zu bewahren und in den Häusern zu bleiben. Kaum einer hält sich aber daran, die Straßen sind voller Menschen. Diktator Marcelo Caetano verschanzt sich mit ein paar Getreuen in einer Kaserne am Largo do Carmo in Lissabon. Ein Reporter interviewt den Offizier Salgueiro Maia, der erklärt, die Kaserne sei umstellt, man wisse aber nicht genau, wer sich drinnen aufhalte und wie weiter vorgegangen werden soll. Während des Gesprächs fallen Schüsse, schnell ducken sich die Reporter. Es wird aber niemand verletzt. Die Belagerung dauert bis in die Abendstunden, ein Ultimatum verstreicht, und wieder wird geschossen. Dann plötzlich kommt Bewegung in der Menge. General António Spínola trifft ein, Diktator Marcelo Caetano kapituliert und übernimmt die Regierung an Spínola. Sieg! Sieg!, rufen die Menschen auf der Straße. 18 Stunden nach den vereinbarten Radio-Signalen ist die Diktatur in Portugal Geschichte, am späten Abend des 25. April sind die einzigen Toten dieser Revolution zu beklagen, vier Menschen werden bei der Erstürmung eines Stützpunktes der Geheimpolizei PIDE erschossen.
Dennoch ist der 25. April 1974 als friedliche, unblutige Revolution in
die Geschichte eingegangen. Als Revolução
dos Cravos, als Nelkenrevolution. Rui Bebiano vom
Dokumentationszentrum in Coimbra erzählt:
"Das ist eine schöne
Geschichte: Eine Frau, die Nelken verkaufte, bot einem Soldaten eine ihrer
Blumen an. Oder vielleicht hat er sie auch gekauft, man weiß es nicht genau und
es ist auch nicht wichtig. Jedenfalls kamen andere Soldaten dazu, sie scherzten
mit den Blumenverkäuferinnen und steckten die Nelken in ihre Gewehrläufe. Immer
mehr Soldaten haben dabei mitgemacht. Damals gab es ja schon Fernsehen und am
nächsten Tag, also am 26. April, war die rote Nelke bereits im ganzen Land zum
Symbol der Revolution geworden. Die
Nelke eignet sich ja gut: sie ist erstens eine wirklich schöne Blume, sie ist
nicht aggressiv – eine Rose mit ihren Dornen wäre als Metapher ja nicht so
ideal – und dann ist da noch die rote Farbe, die gab dem Ganzen natürlich auch
noch eine zusätzliche Symbolik."
In ganz Portugal herrschte Hochstimmung, in den darauffolgenden Tagen
kamen politische Gefangene frei und zahlreiche Intellektuelle kehrten aus dem
Exil in ihre Heimat zurück.
Doch wo steht Portugal heute, 40 Jahre später? Das einstmals so mächtige
Weltreich mit seinen Kolonien auf beinahe allen Kontinenten ist wieder auf
seine ursprüngliche Größe geschrumpft. Politisch wechseln sich fortschrittliche
Kräfte mit konservativen ab. Die Wirtschafts- und Finanzkrise traf Portugal
voll, sie führte zu harten Einschnitten und Konsequenzen. Im Frühjahr 2011
schlüpfte Portugal unter den Euro-Rettungsschirm, die Troika, das
Kontrollgremium, das aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des
Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission besteht, ist seither das
Feindbild Nummer Eins. Denn um den Staatshaushalt auszugleichen, wurden Jobs
abgebaut, Steuern erhöht, Löhne und Gehälter gekürzt. Die Arbeitslosigkeit lag
im Vorjahr bei rund 16 Prozent, bei den jungen sogar bei über 35 Prozent.
Einer, der damals in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat,
ist Mário Soares. Zwei Tage nach der Nelkenrevolution kam der Gründer der
sozialistischen Partei Portugals aus dem Exil zurück, er wurde erster
Außenminister der jungen Republik. Heuer wird Soares 90 Jahre alt. Er sei stolz darauf, damals dabei gewesen zu sein, erzählt er beim Gespräch
in der nach ihm benannten Stiftung in Lissabon. Er habe die Entkolonialisierung
vorangetrieben und die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten unterstützt.
Später wurde Soares dann Premierminister und von 1986 bis 1996 Staatspräsident,
heute geht er mit der aktuellen liberal-konservativen Regierung unter
Ministerpräsident Pedro Passos Coelho hart ins Gericht:
"Es ist wirklich
traurig. Denn so viele Portugiesen gehen fort, die klügsten und besten Köpfe
verlassen das Land, das ist schlecht. Die Regierung zerstört die Ausbildung an unseren
Universitäten, die großartig sind, sie gehören zu den besten der Welt! Und
jetzt macht die Regierung alles kaputt: die Universitäten, die Schulen, das
staatliche Gesundheitssystem. In unserem Land passieren derzeit die schlimmsten
Dinge. Und dabei ist Portugal kein kleines Land, so wie viele denken. Unsere
Landesgrenzen gibt es seit Jahrhunderten, die haben sich nie geändert, und
jetzt lassen wir uns unser Land kaputt machen? Sicher nicht, das dürfen wir
nicht zulassen."
Es sind die alten Menschen, die unter den Kürzungen leiden, und die ganz
jungen. Viele sehen nach dem Studium im eigenen Land keine Zukunft, sie suchen
im Ausland ihr Glück. Portugiesische Krankenschwestern arbeiten in
Großbritannien, portugiesische Ingenieure in Angola.
Und es war wieder ein Lied, das ähnlich wie "Grândola, vila
morena" damals in der Nacht der Nelkenrevolution, genau den Nerv der Zeit
traf. Que parva que sou (Wie blöd ich doch bin) wurde
zur Hymne der Jugendlichen.
Ich gehöre zur Generation ohne Lohn und beschwere mich nicht einmal -
wie blöd ich doch bin.
So singt Ana Bacalhau von der Gruppe Deolinda. Den Erfolg dieses Liedes hat sie genauso wenig vorhergesehen wie ihre Bandkollegen, sehr emotional sei das gewesen, als sie den Song erstmals sangen, sagt sie. Vor zwei Jahren war das, bei Konzerten in Lissabon und kurz darauf in Porto. Seither wiederholen sich die Szenen immer wieder: Jubel und Applaus für ein einfaches Lied, in dem es aber offenbar genau um das geht, was die portugiesische Jugend beschäftigt, wenn sie an die Zukunft denkt: Trostlosigkeit, Frust und Ärger. Ana Bacalhau hat das Gefühl, dass heutzutage Werte wieder in Frage gestellt werden, für die damals rund um die Nelkenrevolution hart gekämpft wurde:
So singt Ana Bacalhau von der Gruppe Deolinda. Den Erfolg dieses Liedes hat sie genauso wenig vorhergesehen wie ihre Bandkollegen, sehr emotional sei das gewesen, als sie den Song erstmals sangen, sagt sie. Vor zwei Jahren war das, bei Konzerten in Lissabon und kurz darauf in Porto. Seither wiederholen sich die Szenen immer wieder: Jubel und Applaus für ein einfaches Lied, in dem es aber offenbar genau um das geht, was die portugiesische Jugend beschäftigt, wenn sie an die Zukunft denkt: Trostlosigkeit, Frust und Ärger. Ana Bacalhau hat das Gefühl, dass heutzutage Werte wieder in Frage gestellt werden, für die damals rund um die Nelkenrevolution hart gekämpft wurde:
"Ich werde immer für diese
Ideale kämpfen, die heute wieder angezweifelt werden. Für mich sind die Maßnahmen
rund um die Wirtschaftskrise die Wurzel allen Übels, man will uns
wirtschaftliche Grundsätze aufzwingen und damit Werte wie Menschlichkeit oder
Würde ersetzen. Wirtschaft ist wichtig, das wissen wir und das wird auch immer
so sein, aber sie muss sich immer unterordnen und darf nicht andere unterwerfen."
Und der Gitarrist Luis Martins fügt hinzu:
"Es ist eigentlich
unglaublich und enorm wichtig, dass ein Lied vom gesellschaftlichen Standpunkt
her noch diese revolutionäre Funktion haben kann. Es dauert zwei, drei Minuten und schafft es in
dieser kurzen Zeit, das Publikum wachzurütteln und in seinen Bann zu ziehen.
Dass es möglich ist, durch ein Lied die Menschen zum Nachdenken zu bringen und
zum Drüber-Reden! Das ist sehr wichtig, weil wir sind ja alle besorgte Bürger. "
Ich gehöre zur Generation, die nicht mehr weiter weiß. Und dann
denke ich nach: Wie blöd ist diese Welt, in der ich studiere, nur um danach wie
ein Sklave zu schuften. (Liedzeile Que parva que sou)
Ein anderer portugiesischer Musiker, der Superstar des Fado, Camané, sieht das ähnlich. Der 25. April 1974 sei für ihn und seine Familie immens wichtig gewesen, er selbst war damals noch ein Kind. Und er wäre nicht derjenige, der er heute ist, davon ist Camané überzeugt:
"Ich war damals
neun, fast zehn Jahre alt. Das Datum bedeutet mir sehr viel. Von 75 bis in die
80er-Jahre hat sich so viel verändert in den portugiesischen Städten. Wir waren
frei, wir durften endlich alles sagen, was wir dachten. Ich hatte das Glück,
damals aufzuwachsen. Alles war im Wandel, alles entwickelte sich, die Schulen,
die Ausbildung, die Kultur. Viele Dinge kamen auf, die vorher nicht möglich
gewesen wären. Ich hatte das Glück, in einem freien Land aufzuwachsen. Das ist
das Wichtigste."
Und genau daran müssten sich die Portugiesen erinnern, an all das, was
sie in den 1970er-Jahren erkämpft haben.
"Wir erleben eine
schwere Zeit, in vielen Bereichen. Deshalb müssen wir uns erinnern. An den 25.
April und alles, was damals passiert ist. Weil heutzutage ist die Politik in
vielem rückwärts gerichtet. Diese neuen Gesetze, die verabschiedet werden –
manchmal wirkt das, als würden wir in die 60er-Jahre zurückkehren. Das schafft ein Klima der Intoleranz, der
Homophobie. Und das betrifft nicht nur einige wenige. Das betrifft uns alle.
Wenn es keine Toleranz gibt, dann werden wir uns bald wieder gegenseitig
bespitzeln und der Nachbar wird ganz genau beobachten, mit wem du nach Hause
kommst."
Camané hält sich mit politischer Kritik nicht zurück.
Doch wer in
Portugal mit den Menschen über Politik spricht, über die Diktatur und ob es
sich lohne, die Nelkenrevolution zu feiern, jetzt 40 Jahre danach, bekommt ab
und zu den Eindruck, so mancher würde das Rad der Zeit gerne zurückdrehen. Salazar,
der Diktator, sei doch gar nicht so übel gewesen, es habe Arbeit für alle
gegeben, man sei zufrieden gewesen. Ins Mikrophon will das allerdings dann doch
keiner sagen.
Der Journalist Manuel Halpern erklärt beim Mittagessen in einem
überfüllten kleinen Restaurant in einer Lissabonner Seitenstraße, warum das so
ist:
"Diese Meinung hat es immer
schon gegeben, nicht nur jetzt in der Krise. Diese Nostalgie war ja auch Teil
der Strategie des Regimes, um Dinge, die passierten, vor dem Volk zu
verheimlichen. In Afrika starben die Soldaten und hier wurde darüber nicht
berichtet. Im Gegensatz zu anderen Diktaturen hielt Salazar sein Volk anders
unter Kontrolle: die Menschen waren arm, nicht nur finanziell, und Salazar
entschied, was sie wissen sollten und was nicht. Sie sollten sich nicht
politisch interessieren, damit sie die Strategien des Regimes nicht
durchschauten. Und die Leute machten mit. Viele Alte trauern dieser Zeit nach,
weil sie damals eben keine Sorgen hatten und sich um nichts kümmern mussten,
und es ihnen jetzt viel schlechter geht.Sie denken einfach nicht nach und dann reden sie diesen Blödsinn daher."
Manuel Halpern wurde zwei Monate vor der Nelkenrevolution geboren, und
auch wenn er sie nicht bewusst miterlebt hat, sei es doch ganz wichtig, diesen
Tag immer wieder zu erinnern:
"Wir müssen immer wieder den
Geist jener Zeit und jener Revolution aufleben lassen. Damit wir erkennen, dass
das Volk die Macht hat, für seine Rechte zu kämpfen. Außerdem geht es darum
nicht zu vergessen, dass wir uns nicht von Politikern täuschen lassen dürfen,
die ständig ihre Wahlversprechen nicht halten."
Für die älteren Menschen in Portugal ist die derzeitige Situation tatsächlich
hart. Sie tragen einen Großteil der Sparlast und müssen mit gravierenden
Pensionskürzungen leben. Der tägliche Einkauf im Supermarkt reißt tiefe Löcher
ins Haushaltsbudget. Für dieses ältere Paar, das am Bahnhof auf den Regionalzug
wartet, ist der 25. April aber dennoch ganz wichtig, sie sagt:
"Das war der Tag der
Freiheit, nicht wahr? Naja, heute ist alles sehr schwierig."
Und er ergänzt:
"Ich erinnere mich gut an den
25. April. Damals gab es noch für alle Arbeit, heute ist das nicht mehr so. Ich
habe Tag und Nacht gearbeitet und heute haben nicht einmal mehr die Jungen
genug Arbeit."
Zurück in die ehrwürdige Universitätsstadt Coimbra, ins
Dokumentationszentrum über die Nelkenrevolution. Zurück zu Direktor Rui Bebiano
und seinen Zeitzeugen, den Zeitschriften, Tondokumenten und Fotografien. Als Universitätsprofessor beschäftigt sich Rui Bebiano seit vielen Jahren
mit dem historischen Erbe Portugals. "Wir müssen uns darauf
besinnen, was wir durch die Revolution gewonnen haben und auch darauf, was in
all den Jahren nicht geschehen ist. Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir damals
in einer nicht-demokratischen Gesellschaft lebten, in einem Regime voller Angst
und Krieg, mit großen sozialen Unterschieden, ohne Gleichberechtigung von Mann
und Frau, wo die jungen Manschen nichts zu sagen hatten und es keine
Gesundheitsversorgung gab. Die Schulpflicht galt damals gerade einmal vier
Jahre, heute sind es zwölf Jahre. Und wer auf der Universität studieren wollte,
musste sehr viel mehr dafür zahlen als heute. Wir müssen also darüber
nachdenken, was für ein Land Portugal früher war und was es heute ist: Nämlich eine
Demokratie - mit all ihren Fehlern und trotz aller Schwierigkeiten."
In wenigen Wochen wird in Portugal wieder gewählt: die Portugiesen sind
wie alle anderen Europäer aufgerufen, ihre Vertreter im EU-Parlament zu
bestimmen. Portugal wurde 1986 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und
profitierte vor allem in den 1990er-Jahren von Förderungen, ausgebaut wurde in
erster Linie die Infrastruktur. Die Nelkenrevolution sei der erste Schritt in
Richtung Europa gewesen, ist Rui Bebiano überzeugt:
"Wir dürfen nicht vergessen,
dass Portugal am 25. April 1974 erstmals zu einer internationalen Gemeinschaft
gehörte, die Jahrhunderte als Kolonialreich zählen da ja nicht mehr. Nach
dieser Revolution wurde Portugal zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Platz
in der Welt zuteil, der ihm als demokratischem Staat innerhalb der europäischen
Staatengemeinschaft zu viel Respekt verholfen hat. Auch wenn wir viel lernen
mussten."
In den 40 Jahren seit dem Ende der Diktatur war tatsächlich viel zu tun.
Denn Portugals Wirtschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Rückschläge
einstecken müssen: Nach der Nelkenrevolution war das Land ein beliebter
Standort für die Produktion arbeitsintensiver Waren wie Schuhe und Textilien,
und auch Siemens, Bosch und Volkswagen verlegten ihre Fabriken nach Portugal.
Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Ost-Öffnung gab es jedoch
billigere Standorte, viele große Firmen wanderten ab. In vielen Bereichen
verpasste das Land den internationalen Anschluss. Demnächst soll Portugal die
letzte Tranche aus dem Rettungspaket erhalten, 1,2 Milliarden Euro von
insgesamt 26 Milliarden seit 2011. Im Juni will das Land finanziell wieder auf
eigenen Beinen stehen. Die Hoffnung ist groß und Anzeichen dafür, dass sich das
kleine Land wieder aufrappelt, gibt es bereits: Im zweiten Halbjahr des
Vorjahres ist die Wirtschaft wieder gewachsen, die Importe sinken, die Exporte
steigen, Portugal erwirtschaftete erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder
einen Überschuss im Außenhandel. Die Arbeitslosigkeit sinkt langsam und im
Tourismus gab es ein Rekordjahr.
Heute definiert sich Portugal einerseits als Teil Europas, als Teil einer
Gemeinschaft, mit all ihren Rechten und Pflichten. Andererseits besinnt sich
das kleine Land wieder seines kolonialen Erbes, Brasilien ist einer der
wichtigsten Handelspartner, interessant sind auch die ehemaligen Kolonien in
Afrika, allen voran Angola. 40 Jahre nach der Nelkenrevolution scheint Portugal
die Welt offen zu stehen, ob es die Chancen nutzt, werden die nächsten
Jahrzehnte zeigen.