Alte Eltern.

Wenn die Eltern alt werden, bereitet das den Jungen Sorgen. Ist die Wohnsituation noch passend? Wer kocht, wer putzt, wer versorgt die alten Menschen? Der deutsche Autor Volker Kitz erzählt in seinem neuen Buch mit dem Titel „Alte Eltern“ einfühlsam und tröstlich die Geschichte seines an Demenz erkrankten Vaters. Und beschäftigt sich dabei mit den Fragen einer ganzen Generation, deren Eltern sich – manche langsamer, manche viel zu schnell – dem Ende ihres Lebens nähern.

„Eine Schule der Empathie und des Verstehens – ein unendlich schönes Buch“ steht auf der Rückseite des Schutzumschlags. Und: „Es ist lange her, dass mich ein Buch so berührt hat.“ Solche Zitate sind manchmal ein Impuls, ein Buch wieder ins Regal zurückzustellen und ein anderes auszuwählen. Doch das wäre bei diesem Buch ein Fehler. Denn wer es aufschlägt, wird es nicht eher aus der Hand legen, bis auch die letzte Seite gelesen wurde. 

Zitat: Wir, die Kinder, machen scharenweise ähnliche Erfahrungen, während unsere Eltern alt werden: Zeichen erkennen, deuten, sich eingestehen. Konsequenzen aushandeln. Liebe und Streit; Verwandlungen verarbeiten. Bangen. Abschied nehmen. Sie betreffen nicht nur die Eltern, sondern auch uns, im Kern unserer Lebensgestaltung. Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich erscheint.

Volker Kitz trifft den Ton der Generation, die sich gerade langsam, aber sicher mit dem Gedanken anfreunden muss, dass die Eltern nicht unverwundbar sind, dass sie nicht immer für uns da sein werden, dass sie nicht ewig leben. Und er tut das in einer wunderbaren Sprache – kurze Gedanken wechseln ab mit klugen Überlegungen. Er selbst nennt seinen Text einen literarischen Essay.

Zitat: Schreiben ist Suche nach Zurechtkommen, das heißt für mich: meinem Vater anständig gegenübertreten. Dem Vertrauten nicht nachtrauern, wenn es gegangen ist. Dem Vertrauten an ihm, an mir, an den Dingen, an einer Welt, die sich so ändert, dass wir die alten Rezepte nicht anwenden können, weil Zutaten fehlen. Die Lücken füllen mit etwas, das trägt, für diesen Moment. Dann für den nächsten. Dann sehen wir weiter.

Bei all der Poesie, die Volker Kitz` Buch so besonders macht, bleibt es doch immer nahe am Sachbuch, der Autor zitiert neben literarischen auch aus zahlreichen wissenschaftlichen Werken. Bei jedem Schritt, den sein demenzkranker Vater tut, informiert sich der Autor. Macht sich sachkundig, wie er es formuliert. Was tut sich im Gehirn des alten Mannes und wie reagiert sein Körper? Was können wir Kinder tun? Der Autor will wissen, was mit seinem Vater passiert.

Zitat: Ich will verstehen, wie Erinnerung funktioniert und warum sie bei meinem Vater nicht funktioniert. Ich frage mich, was wir früher hätten wissen müssen, erkennen können. Ich brauche eine Ahnung davon, was in meinem Vater vorgeht und wie ich ihm am besten gegenübertrete, wenigstens eine Ahnung. Wenn ich weiß, wie es anfing, denke ich, kann ich es anhalten.

Es ist ein Schock für Volker Kitz und seinen Bruder, als der Vater bei der Einstufung gleich in Pflegestufe drei rutscht. Wann waren die Stufen eins und zwei? Was wurde übersehen? Der Autor erzählt die Geschichte seines Vaters überaus offen, spart auch persönliche Details nicht aus: Erinnerungen an eine sorglose Kindheit mit einem zwar schweigsamen aber überaus empathischen Vater. Die vielen Zettel, auf denen der Vater schon lange vor seiner Erkrankung notiert, was er nicht vergessen darf. Die Szenen im Pflegeheim, die aus des Vaters Mund dramatisch – aber auch ein bisschen witzig – klingen, und die der Autor schließlich aufklären kann.

Zitat: VATER raunend Von Konkurs war die Rede. SOHN Konkurs? VATER Schhhh! Blickt vorsichtig im Zimmer um sich.

Es stellt sich heraus, dass das Pflegegeld erhöht werden soll, jemand im Stiegenhaus ruft: „Wie soll ich das alles bezahlen?“ Der Vater wittert eine Verschwörung. 

Der Autor macht es sich selbst nicht leicht: Tränen, Wut, Scham- und Schuldgefühle werden zugelassen und analysiert. Von der Erkenntnis, dass der Krankheitsverlauf des Vaters tatsächlich „normal“ ist bis zur Gewissheit, dass er nichts daran ändern kann.

Zitat: Das aber war schwerer als gedacht. Noch heute, mit Abstand, kann ich das Geschehen kaum entzerren, das Klammern an die Vergangenheit kaum trennen von der Öffnung für die Zukunft. Je mehr ich darüber nachdenke, desto stärker wächst der Verdacht, dass die Grenze nicht scharf gezogen ist, dass wir uns schnell etwas vormachen, wenn wir glauben, wir lassen los.

Der Vater, der an der Idee, dieses Buch zu schreiben, zunächst noch regen Anteil nimmt, stirbt schließlich an einer Lungenentzündung, einer der häufigsten Todesarten bei demenzkranken Menschen: Sie vergessen, wie man schluckt, Nahrungsreste geraten in die Lunge, die sich schließlich entzündet. Im Zuge der Beerdigung macht sich Volker Kitz Gedanken darüber, wer sein Vater wirklich war, wie er selbst sein Leben gesehen hat, ob er zufrieden war – und der Autor meint, er wisse eigentlich recht wenig über seinen Vater. Wer dieses Buch liest, hat einen anderen Eindruck und nimmt als Fazit mit: Solange dafür noch Zeit ist: Hören wir ihnen zu, kümmern wir uns um sie, lernen wir sie kennen – unsere alten Eltern. 

Eine klare Leseempfehlung!

Info: Volker Kitz „Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt“, (Kiepenheuer & Witsch 2024)