Eine versunkene Welt.

Die Bucklige Welt, das Wechselland – die meisten von uns kennen diese Region vor allem vom Durchfahren auf der Südautobahn. Eine hügelige Gegend durchsetzt mit kleineren Ortschaften, ländlich und durchaus pittoresk. Seit einigen Jahren sind hier umtriebige Historikerinnen und Historiker zu Gange, sie wollen Zeitgeschichte erlebbar machen und suchen nach Lebensspuren und Erinnerungen. In einem fast 300 Seiten starken, reich bebilderten Sammelband sind nun unter dem Titel Eine versunkene Welt – Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt – Wechselland einige dieser Geschichten vereint. Sie geben Einblick in ein spannendes und berührendes Stück Regionalgeschichte.

Zitat: Ich komme von einer anderen Welt, einer versunkenen Welt, einer Welt, die es nicht mehr gibt, von der alle Spuren ausgelöscht wurden und die nie wieder auferstehen wird. Ein Brief von Fritz Blum. 1914 in Krumbach geboren, flieht Blum 1938 über die Schweiz, überlebt den Krieg in einem Dorf in Südfrankreich. Später wandert er nach Kanada aus. Doch seine Geschichte beginnt schon viel früher, rund um 1820, als sich sein Vorfahr Juda Blum, der „Jidl“, in Krumbach niederlässt, eine Synagoge errichtet und die jüdische Gemeinde begründet. Und so ist es auch in vielen anderen Ortschaften der Buckligen Welt. Jüdische Familien führen Greißlereien, Wollwarenfabriken, arbeiten in der Milch- und Viehwirtschaft. Die Gegend ist vor allem bei Sommerfrischlern beliebt, Antisemitismus ist latent immer da. 1909 befürchtet ein Bewohner von Kirchberg am Wechsel, sein Heimatdorf könnte „verjudet“ werden. 1920 erscheint in den „Wiener Neustädter Nachrichten“ folgender Aufruf:
Zitat: Um in unserem Orte den Zuzug jüdischer Sommerfrischler unmöglich zu machen, wurde seitens der Hausbesitzer beschlossen, im kommenden Sommer nur noch an Christen Wohnungen zu vergeben. Arier mögen sich baldigst melden! 

Die Jüdinnen und Juden, die hier leben und arbeiten, sind gut integriert, zahlreiche Fotografien in diesem Buch zeigen lachende Kinder, fröhliche Jugendliche, plaudernde Erwachsene. Oft ist von einer „unbeschwerten Kindheit“ die Rede. Mit dem Jahr 1938 ändert sich alles. Der Bad Erlacher Fleischhauer Max Brückner – der 1942 gemeinsam mit seiner Frau Theresia im Vernichtungslager Treblinka ermordet wird – wehrt sich lange gegen die Zwangsveräußerung seines Besitzes, schreibt an den Reichswirtschaftsminister:
Zitat: Ich gestatte mir, meine Bitte auch damit zu begründen, dass ich in Erlach geboren bin, seit meiner Geburt in Erlach gewohnt habe und die Häuser schon von meinem Vater geerbt habe, weshalb ich mich hiervon nur schwer trennen kann. Ich habe mich nie staatsfeindlich betätigt und auch sonst nie einen behördlichen Anstand gehabt, sodass auch in dieser Richtung kein Anlass besteht, die Liegenschaft und das Geschäft zwangsweise zu veräußern.

Ausführlich erforschte Familiengeschichten sind in diesem Buch zu lesen, aber auch ganz kurze Erzählungen von Familien, von denen tatsächlich nichts übriggeblieben ist. Berührend auch die Geschichte der Gemischtwarenhandlung Winkler in Hochwolkersdorf. Sie erzählt von Plünderungen und wüsten Beschimpfungen gegen die Familie Winkler, aber auch von Widerstand und Hilfe. Denn die Bäuerin Maria Rosa bringt den Winklers gegen den Willen ihrer beiden älteren Söhne weiterhin die Milch, erzählt der jüngste Sohn Anton:
Zitat: Solange ich mich zurück erinnern kann, haben wir der Familie Winkler immer die Milch geliefert. Die Mutter hat gesagt: „Euch werde ich nicht fragen, ob ich denen eine Milch liefere“.
Anton ist mit Kurt Winkler befreundet. Die beiden kennen sich aus der Schule. Hochwolkersdorf ist innerhalb weniger Tage im März 1938 „judenfrei“. Kurt Winkler, damals 12 Jahre, erinnert sich:
Zitat: Unsere Familie war weg, und nichts erinnert mehr an uns. Als ob es uns nie gegeben hätte! 
Bruder Willi fährt mit einem Kindertransport nach England, Kurt und seine Eltern flüchten nach Palästina. Wer es nicht ins Exil schafft, hat kaum eine Chance zu überleben. Mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Region stirbt in Konzentrationslagern. Aus dem Exil zurückgekommen sind nur ganz wenige, und wenn, dann erst viele Jahre nach Kriegsende. Fritz Blum erzählt:
Zitat: Der erste Schulfreund, welchem ich begegnete, fiel mir um den Hals und weinte, ein anderer dagegen sagte: „Bist a wiada do, hot ma do nit olle umbracht?“

Zitate, Briefe, Dokumente und Fotografien erinnern an die versunkene Welt der jüdischen Gemeinden. Die Ortschaften haben sich kaum verändert, noch immer gibt es das Haus des Gemischtwarenhändlers, die ehemalige Fleischerei, die Wirtschaftsgebäude einer Fabrik. Was fehlt, sind die Menschen, die hier so gerne gelebt haben. Wie Stephan Mautner aus Trattenbach:
Zitat: Mit Mathematik kommt man genauer, mit Liebe zur Natur aber nicht schlechter, und jedenfalls schöner durch die Welt. Und darauf kommt es an. Liebe zur Schönheit ist Liebe zur Natur, Natur und Ewigkeit gehören zueinander und wo beginnt die Ewigkeit? Am End´ der Welt, in Trattenbach für mich – für uns.
Stephan Mauthner und seine Frau Else werden im Sommer 1944 in Auschwitz ermordet.

Info:
Johann Hagenhofer, Gert Dressel, Werner Sulzgruber (Hg.): Eine versunkene Welt. Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt - Wechselland (Kral-Verlag, 2019)