Das unendliche Meer.

Das Meer – gerade in der kalten Jahreszeit ein Sehnsuchtsort. Was kann einem da Besseres passieren, als ein Buch mit mehr als 1000 Seiten, in dem es um die Geschichte der Meere geht. Der britische Autor David Abulafia hat nach seiner prämierten Biografie des Mittelmeeres nun ausführlich nachgelegt: Das unendliche Meer heißt sein nun auf Deutsch übersetztes neuestes Werk. Ein Buch über Netzwerke und Verbindungen quer über den Globus.

Das Original dieses Buches trägt den Untertitel A human history of the oceans – und das trifft es inhaltlich tatsächlich besser als der für die deutsche Übersetzung gewählte Untertitel Die große Weltgeschichte der Ozeane. Denn es ist die Geschichte der Interaktion der Menschen mit und über die Weltmeere. Es geht um den Austausch zwischen verschiedenen Küstenregionen, es geht um die Besiedelung neuer Welten, um die Verbreitung von Wissen, um den Handel mit Gütern.

Zitat: Bei der Entwicklung von Beziehungen zwischen menschlichen Gesellschaften spielt das Meer eine besonders faszinierende Rolle. Großräumige Verbindungen sorgten und sorgen für stimulierende Kontakte zwischen Völkern, Religionen und Zivilisationen.

Es geht in diesem Buch freilich nicht nur um ein friedliches Miteinander, sondern auch um Ausbeutung von Ressourcen und den Handel mit Menschen. Und so haben Abenteurer und Piraten in der Geschichte der Weltmeere ebenso ein Wörtchen mitzureden. Selten ging es den Eroberern von damals um das Wohl der von ihnen angetroffenen Urbevölkerung. Denn wo keine Rohstoffe zu finden waren, wurden in vielen Fällen die Menschen zur Handelsware.

Das vorliegende Buch ist in fünf Blöcke gegliedert. Zuerst werden die drei großen Ozeane, der Pazifik, der Indische Ozean und der Atlantik, ab der Urzeit beschrieben – beim Pazifik etwa beginnt die Erzählung 176 000 Jahre vor unserer Zeit. Eine Phase, die vielerorts ausgeblendet wird, obwohl sich bereits damals allerlei seetüchtige Boote zwischen Inseln und Küstenlinien tummelten. Danach geht es – beginnend mit Christoph Columbus` Ankunft im vermeintlichen Indien, also der in Anführungszeichen Entdeckung Amerikas – um die langen Jahre der Erkundungen und die daraus resultierende Vernetzung der Weltmeere. 

Im letzten großen Kapitel des Buches, das die Zeit von 1850 bis 2000 abdeckt, beschäftigt sich der Autor auch mit aktuellen Entwicklungen: der Überfischung, der Verschmutzung der Meere, dem Klimawandel.

Immer wieder überrascht David Abulafia seine Leserinnen und Leser mit Anekdoten, wie etwa jener, dass Columbus erstaunt darüber war, keine menschenfressenden Ungeheuer in der Karibik anzutreffen, sondern – so steht es im Logbuch geschrieben – schöne, unschuldige Menschen. Oder jene Geschichte eines Kapitäns eines Schoners, der in Polynesien unterwegs war, und dem der Kompass ins Wasser fiel.

Zitat: Er gestand seiner polynesischen Mannschaft, dass er sich verirrt hatte, doch die Männer sagten ihm, er solle sich keine Sorgen machen, und brachten ihn an sein Ziel. Er staunte, wie leicht ihnen das fiel und fragte sie, woher sie wussten, wo die Insel lag. „Wieso?“, erwiderten sie ihm. „Sie war schon immer dort!“

David Abulafia schreibt stets auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand, scheut sich aber nicht, Mythen, Legenden und Abenteuerreisen in seinen Text einzubauen und diese – ohne dabei wertend zu sein – auch zu diskutieren. Etwa die Expeditionen Thor Heyerdahls auf seinem Floß Kontiki.

Zitat: Er segelte 1947 mit seinem Floß quer über das offene Meer, überlebte diese Fahrt wie durch ein Wunder und nahm nun an, nur weil es möglich war, in Polynesien zu landen (oder in seinem Fall: an Land geworfen zu werden), müssten solche Fahrten auch in der Vergangenheit unternommen worden sein. 

DNA-Analysen und andere wissenschaftliche Erkenntnisse beweisen jedoch das Gegenteil. Dennoch gibt der Autor auch diesen Abenteuergeschichten Raum und zollt ihren Protagonisten Respekt. Ohne neugierige und mutige Menschen, die sich auf ihren mehr oder weniger seetauglichen Booten seit Jahrtausenden auf den Weg machten, hätte sich die Welt nicht so entwickelt, wie wir sie heute kennen.

Über 1000 Seiten hat der dicke Wälzer und er ist jede Sekunde Lesezeit wert. Denn David Abulafia versteht es, komplexe Gegebenheiten leicht verständlich und anschaulich darzustellen, er erzählt mit Lust und Leichtigkeit, stets kritisch hinterfragend und mit vielen spannenden Details. Zwei farbige Bildteile, zahlreiche erklärende Seekarten und hunderte Anmerkungen machen dieses Buch zu einem umfassenden Standardwerk, das in keiner maritim-geprägten Bibliothek fehlen darf. 

Info: David Abulafia Das unendliche Meer. Die große Weltgeschichte der Ozeane, aus dem Englischen von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff (S. Fischer 2021)