Kontext, 13.9.2013
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen – das gilt umso mehr, je besser man Land und Leute versteht. Mehrere Fremdsprachen zu können, ist für viele immer noch das Um und Auf für eine für beide Seiten erquickliche Kommunikation. Doch ist das wirklich notwendig? Brauchen wir tatsächlich all diese Sprachen? Sprechen nicht sowieso die meisten vor allem jungen Menschen schon Englisch? Und wäre es nicht sinnvoll, diese Entwicklung noch zu beschleunigen? Diese provokante These vertritt Philippe Van Parijs in seinem Buch Sprachengerechtigkeit für Europa und die Welt.
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen – das gilt umso mehr, je besser man Land und Leute versteht. Mehrere Fremdsprachen zu können, ist für viele immer noch das Um und Auf für eine für beide Seiten erquickliche Kommunikation. Doch ist das wirklich notwendig? Brauchen wir tatsächlich all diese Sprachen? Sprechen nicht sowieso die meisten vor allem jungen Menschen schon Englisch? Und wäre es nicht sinnvoll, diese Entwicklung noch zu beschleunigen? Diese provokante These vertritt Philippe Van Parijs in seinem Buch Sprachengerechtigkeit für Europa und die Welt.
Würden wir alle die
gleiche Sprache sprechen, dann wäre das gerecht, alle hätten die gleichen
Chancen. Missverständnisse oder Übersetzungsfehler könnten vermindert oder
ausgeschlossen werden, allen Weltbürgern würde ermöglicht, an politischen und
wirtschaftlichen Prozessen teilzunehmen. So lautet, stark vereinfacht, das
Plädoyer des Autors. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Denn allen Völkern
eine Lingua franca, eine einheitliche Verkehrssprache, die laut Van Parijs nur
Englisch sein kann, überzustülpen, klingt nach einem schwer zu bewältigenden
Unternehmen.
Zitat: Wir brauchen eine Lingua
franca, und zwar nur eine einzige, wenn wir in der Lage sein wollen, effiziente
und faire Lösungen für unsere gemeinsamen Probleme in europäischem und globalem
Maßstab auszuarbeiten und umzusetzen, ja allein schon, um Sprachengerechtigkeit
selbst zu diskutieren, zu charakterisieren und zu verwirklichen.
Und so hinterfragt Philippe
Van Parijs, Professor für Ökonomie, Sozialethik und Philosophie, die derzeitige
Sprachensituation, er philosophiert über den praktischen „Babelfisch“ aus Douglas Adams` Roman Per
Anhalter durch die Galaxis, der es den Menschen ermöglicht, sich mühelos und
fehlerfrei miteinander zu unterhalten, er reflektiert über die künstliche
Sprache Esperanto. Er beschäftigt sich mit Machtverhältnissen, dem Aufstieg des
Englischen, der Verbreitung von Ideologien mithilfe von Sprache. Und er macht
sich Gedanken darüber, wie Sprachbeherrschung in der Lingua franca erzielt
werden kann.
Fußnoten, die teilweise mehr Platz einnehmen als der eigentliche
Text, ergänzen und unterstützen die Thesen des Autors, Zitate und Anekdoten aus
dem vor allem politischen europäischen Alltag sollen sie illustrieren. Einmal
geht es zum Beispiel um den sprachlichen Umgang der wechselnden Präsidentschaft
im EU-Parlament:
Zitat: So gebrauchte die
spanische Präsidentschaft Spanisch, Englisch und Französisch, während die
französische Präsidentschaft alle 23 Sprachen verwendete, wobei Französisch an
erster Stelle kam und Englisch an letzter.
Um wie viel ärmer wäre
Europa, gäbe es diese kleinen spitzen Untergriffe zwischen den Staaten nicht.
Sprache ist ja vor allem Identität. Doch der Autor sieht das anders, Vielfalt
ist zwar prinzipiell gut und es soll sie auch weiterhin geben, der Autor
behauptet aber, Sprachenvielfalt sei kein Wert an sich, Gerechtigkeit hingegen
schon. Und es lohne sich oftmals nicht, vor allem kleine Sprachgemeinschaften
zu erhalten.
Zitat: Wenn eine
Sprachgemeinschaft angesichts einer realistischen Kostenprognose zu dem Schluss
kommt, der finanzielle Aufwand sei für sie zu hoch, muss hier kein anderer Geld
zuschießen. Stirbt eine Sprache aus, muss man das akzeptieren. Das kann traurig
sein, aber es stellt keine Ungerechtigkeit dar.
Doch wie soll das nun
gehen, dass alle Menschen die gleiche Sprache lernen und dann tatsächlich so
gut beherrschen wie die Muttersprachler? Vorrangig natürlich durch Unterricht
und Kurse. Eine teure Sache, findet der Autor und schlägt ein
Synchronisationsverbot für alle englischsprachigen Filme vor.
Zitat: Sobald der Konsum
untertitelter Filme die Englischkenntnisse auf ein gewisses Niveau gehoben hat,
wird genauso wie in diesen Ländern transnationales Websurfen, Bloggen, Chatten,
Skypen, Twittern und real Begegnen - häufig auf Englisch zwischen
Nichtanglophonen unterschiedlicher Muttersprache - das Seine dazu beitragen,
und binnen einer Generation werden die Englischkenntnisse überall in Europa
noch weniger ein Problem sein, als sie es heute in den diesbezüglich
versiertesten Teilen des Kontinents sind.
Einigen Berufsgruppen,
wie Dolmetschern, Übersetzern und Sprechern könnten durch ein
Synchronisationsverbot freilich Nachteile entstehen, das müsse man so
akzeptieren, meint der Autor.
Zitat: Die persönlichen
Interessen einer winzigen Minderheit aber können nicht mit Fug und Recht eine
Maßnahme verhindern, die einer großen, vergleichsweise benachteiligten Mehrheit
enorm nützen und damit die Verteilungsgerechtigkeit stärken würde.
Es wird viel über
Gerechtigkeit gesprochen in diesem Buch. Doch immer wieder wechselt Van Parijs
die Seiten, überlegt, ob denn Englisch als Lingua franca allen anderen Sprachen
gegenüber nicht schrecklich unfair ist, haben doch die Muttersprachler zumindest
am Beginn der gewünschten globalen Entwicklung eindeutig Vorteile, und die
Menschen, die Englisch lernen müssen, haben eindeutig Nachteile. Der Autor
plädiert für Fairness und entschlossenes Vorgehen, nur so könne die Situation
gemeistert werden.
Van Parijs` Buch ist
provokant, akribisch recherchiert, intelligent geschrieben und doch schwere
Kost, vor allem die Abschnitte über die Nutzenberechnung. Der Autor versteigt
sich in hochkomplizierte Berechnungsmodelle, er zitiert Philosophen und
Soziologen, überlegt Transferleistungen und sogar eine Sprachensteuer, die die
Muttersprachler zu entrichten hätten, nur um später zu bemerken.
Zitat: Aber ist es nicht
witzlos, über den vernünftigsten Weg zu spekulieren, wie sich die Last einer
Steuer verteilen ließe, die mit größter Wahrscheinlichkeit niemals eingeführt
werden wird?
Dennoch sind viele
Gedankengänge hochinteressant und regen zu Diskussionen an. Was erstaunt, ist
die starre Sicht des Autors - die Sprachsituationen in Asien, Afrika oder
Lateinamerika werden wenn, dann nur sehr peripher gestreift - Europa steht im
Mittelpunkt der Überlegungen. In seinem Fazit verweist Van Parijs darauf, dass
zentrale Behauptungen wesentlich umfassender gemeint sind. Dass dieses Buch
jedoch überhaupt ins Deutsche übersetzt wurde, relativiert viele Aussagen und
Thesen des Autors. Wirklich radikal wäre es wohl gewesen, wäre das Buch
tatsächlich nur auf Englisch erschienen.
Philippe Van Parijs: Sprachengerechtigkeit für Europa und die Welt (erschienen bei Suhrkamp)
Philippe Van Parijs: Sprachengerechtigkeit für Europa und die Welt (erschienen bei Suhrkamp)