Bergsteigen.

Jetzt beginnt wieder die Zeit des Wanders und Bergsteigens. Die Temperaturen sind angenehm, der Wald erstrahlt in sattem Grün, die Natur lockt in all ihrer Schönheit. Bücher übers Bergsteigen gibt es viele, sie enthalten Tipps und Tricks, wie eine Tour am besten gelingt. Doch heute präsentieren wir Ihnen ein etwas anderes Buch über die Berge. Der deutsche Philosoph und Theologe Günter Seubold nennt sein Buch „Bergsteigen“ im Untertitel „Eine Philosophie des Lebens“. Denn, so ist er überzeugt, Bergsteigen ist mehr als Sport, es ist eine Einstellung und eine Übung für ein gutes Leben.

Günter Seubold war am Watzmann in Deutschland, am Schweizer Matterhorn, am Piz Bernina an der Grenze der Schweiz zu Italien, am Fuji-San, dem heiligen Berg der Japaner. Und auf vielen, vielen weiteren Gipfeln. Und bei jeder Bergtour machte er sich Gedanken: über die Einsamkeit am Berg, die Stille, die Freiheit und das Glücksgefühl. 

Zitat: Es gibt Tätigkeiten, Situationen und Erlebnisse, in denen konzentriert und höchst lebendig geschieht, was sich sonst nur mechanisch abspult, in die Länge zieht und langweilig wird. Bergsteigen ist konzentriertes Tun. Bergsteigen ist konzentriertes Leben. Es verdichten sich: Zeit, Aufmerksamkeit, Sinnlichkeit, Nachdenklichkeit; es intensiviert sich die Beziehung von Mensch und Welt.

Schon in der Einleitung stellt der Autor klar, was dieses Buch nicht sein soll: Es ist keine Kulturgeschichte des Bergsteigens und es berichtet auch nicht über Erlebnisse diverser Profibergsteiger – auch wenn diese ab und zu zitiert werden. Was Günter Seubold hier vorlegt, ist allein seine Sicht auf das Bergsteigen, individuell und sehr authentisch. Und es bietet eine andere Sichtweise auf das Bergsteigen zwischen Sport und Massentourismus.

Zitat: Der Bergsteiger, der heute zählt, so meine These, ist nicht in erster Linie bestrebt, eine Vielzahl der höchsten Berge zu erklimmen in einer möglichst kurzen Zeit; der bessere Bergsteiger ist heute der, der zu erfahren und vielleicht auch weiterzugeben vermag, dass das Verhalten des gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Menschen in mehrfachem Sinne revisionsbedürftig ist und einem wahrhaftigeren, also auch schonenderen und nachhaltigeren Weltverhältnis des Menschen weichen sollte.

Bergsteigen um des Bergsteigens willen. Das Geschehen steht im Vordergrund. Und das beginnt meistens im Tal, in der Ebene. Wenn wir gehen. Im Alltag gehen wir zumeist aus einem bestimmten Grund, um etwas zu besorgen, oder um jemanden zu besuchen. Gehen ohne Zweck, das nennen wir spazieren. Und es scheint das Selbstverständlichste auf der Welt zu sein, eines Nachdenkens nicht wert. 

Zitat: Aber der Schein trügt. Gehen um seiner selbst willen ist oder kann zumindest sein: etwas Komplexes und Hochbedeutsames. Wenn Nietzsche fordert, man solle keinem Gedanken trauen, den man nicht im Gehen gedacht hat, so reißt er damit an, was alles im zwecklosen Gehen möglich ist: im Extrem und nach Nietzsches eigenem Anspruch nicht weniger als die Umwertung aller Werte.

Und bald bewegen wir uns aus der Horizontalen in die Vertikale, kommen ins „Steigen“. Das übrigens immer auch ein Gehen ist, das Gehen aber nicht immer ein Steigen - vom Wanderweg auf den Gebirgspfad und weiter die Kletterroute entlang. Immer höher, immer steiler. Doch anders als beim Spazieren oder Flanieren, ist beim Bergsteigen eine gute Planung der Tour essenziell. Das Ziel ist meist ein Gipfel, doch auch der Rückweg muss immer im Blick bleiben. Jeder Schritt ist genauso wichtig wie der gesamte Weg.

Zitat: Im Grunde geht es beim Bergsteigen wie im Leben insgesamt um ein hermeneutisches Grundprinzip: Das Ganze ist nur durch das Detail und das Detail nur durch das Ganze adäquat zu verstehen und zu praktizieren. Im Höchsten das Unterste, im Untersten das Höchste, im Kleinen das große Ganze im Sinn zu behalten – das ist die Aufgabe. Je nachdrücklicher man dies beachtet, desto besser, leichter und freudiger wird man steigen – und leben.

Es geht in diesem schönen Buch um viele Aspekte des Bergsteigens: das Auf-sich-selbst-gestellt-sein und die Verantwortung, den Leichtsinn und die Selbstüberschätzung, die Eigendynamik, die eine Tour annehmen kann. Immer wieder fügt der Autor Teile seiner persönlichen Aufzeichnungen hinzu, die während verschiedener Bergtouren entstanden. Da wird es dann oft recht poetisch, teilweise fast ein bisschen schwülstig. Etwa nachdem Günter Seubold einer gefährlichen Situation entgeht, weil er sich auf einer Gletscher-Skitour für die richtige Abfahrtsspur entscheidet und offenbar einen Schutzengel hat.

Zitat: Ich atme durch. Da hatte ich Glück. O Fortuna, du launisches Weib! Oder soll ich dem Engel danken? Erschüttert bin ich. Und dankbar, unendlich dankbar.

Doch ist das nicht zulässig angesichts der Erhabenheit der Bergwelt? Große Worte werden hier gesagt: Demut, Respekt, Ehrfurcht. Der Autor hat katholische Theologie studiert, auch das Religiöse spielt herein, hält sich aber in Grenzen und ist außerdem elegant in Günter Seubolds Ausführungen eingeflochten. Im letzten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit dem Einswerden mit dem Berg, dem erotischen Verhältnis zur Bergwelt. Und er verweist darauf, dass ein Tag am Berg eine Art Frei-Tag darstellt, einen Tag losgelöst von allen Problemen.

Zitat: Dieser Frei-tag ist zugleich – als Absetzung vom Alltag – ein Festtag. Man lässt in gewissem Sinne seine Sorgen zurück, man verdrängt sie nicht, aber man distanziert sich – oder kann es zumindest und sollte es auch tun. Denn oft ist es der fehlende Abstand zu diesen Sorgen, der einen hindert, sie recht zu bedenken und Probleme zu lösen.

Info: Günter Seubold „Bergsteigen. Eine Philosophie des Lebens.“ (Tyrolia 2025)