Warum wir träumen.

Träumen – dieser eigenartige Zustand, in dem wir alles sein und tun können, beschäftigt nicht nur uns Schlafende kurz nach dem Aufwachen immer wieder aufs Neue. Psychologen und Neurowissenschaftler*innen aus aller Welt haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Vorgänge, die in unserem Gehirn passieren, zu entschlüsseln. Einer von ihnen ist der US-amerikanische Neurochirurg Rahul Jandial. In seinem Buch „Warum wir träumen“ gibt er einen spannenden Überblick über den aktuellen Stand der Forschungen und erzählt, was uns unser Gehirn im Schlaf über unser Leben offenbart. 

Wie kommt der Traum in unseren Kopf? Wer entscheidet über den Inhalt des Traumes und warum ist er manchmal extrem brutal und angsteinflößend? Können wir unsere Träume steuern oder sind wir ihnen ausgeliefert? Und gibt es Menschen, die gar nicht träumen? Diese und noch viel mehr Fragen beantwortet Rahul Jandial bei einem aufregenden Spaziergang durch verschiedenste Traumlandschaften. Denn, so formuliert es der Autor: Träume sind einfach eine andere Form des Denkens.

Zitat: Träume faszinieren, erschrecken und inspirieren uns, weil sie ebenso real wie surreal sind. Wir sind gleichzeitig Schöpfer unserer Träume und ohnmächtige Mitwirkende unserer merkwürdigen Kreationen. Träume entstehen aus uns, trotzdem scheinen sie irgendwie ein Eigenleben zu haben.

Das Schöne an diesem Buch ist, dass der Autor selbst extrem neugierig ist, sogar nach vielen Jahren als Chirurg und Wissenschaftler ist er immer wieder fasziniert von den Leistungen unseres Gehirns. Denn wenn man Träume früher als Botschaften der Götter oder Informationen, die die Seele auf ihren nächtlichen Spaziergängen sammelte, interpretierte, so weiß man heute freilich, dass es sich schlicht um elektrische Aktivität handelt, die die abstrusen, fantasievollen oder verstörenden Bilder im Kopf entstehen lässt. Ein ausführliches Kapitel ist in diesem Buch dem Albtraum gewidmet.

Zitat: Albträume sind universell und waren, soweit wir das sagen können, immer Teil der Menschheitsgeschichte. Es handelt sich dabei nicht um eine Funktionsstörung oder Fehlentwicklung, die einige Menschen betrifft und andere nicht. Jeder Mensch hat Albträume. Unsere Lebenserfahrung, Ernährung, Alter oder persönlichen Gewohnheiten gebieten ihnen keinen Einhalt. Selbst die wunderbarste Kindheit schützt nicht vor Albträumen.

Dass Albträume auch einen Nutzen haben können, mag man zunächst kaum glauben. Wir fallen, wir fliehen, wir werden gejagt – doch all dies schärft unsere Sinne für die Wirklichkeit. Albträume kann man in den Griff bekommen, der Autor gibt dafür überaus hilfreiche Tipps. 

Weiter geht die Reise durch erotische Träume, es geht außerdem darum, wie Träume unsere Kreativität beeinflussen und was sie uns über unsere Gesundheit verraten. Spannend auch das Kapitel über luzide Träume, in die der Träumende eingreifen kann. Ein Bereich, in dem sich wacher und träumender Geist überschneiden.

Zitat: Ein luzider Traum ist ein Paradox, das eher mystisch als real erscheint, ein doppeltes Bewusstsein, das zum einen die lebhafte und unlogische Traumwelt umfasst, zum anderen die Einsicht, dass Sie – die träumende Person – in dieser Welt sowohl Schöpfer als auch handelnde Person sind. In einigen Fällen gehen luzide Träumende noch einen Schritt weiter und kontrollieren den Handlungsstrang im Traum, sozusagen eine Art Echtzeit-Traumsteuerung.

Luzides Träumen kann man lernen. Der Autor stellt diverse Anleitungen vor. Interessantes Detail: Wenn man im Traum nicht weiß, ob man gerade träumt oder vielleicht doch wach ist, soll man seine Hände betrachten. Sind an jeder Hand fünf Finger oder wächst da irgendwo ein Finger dazu? Bewegen sich die Hände normal oder ist etwas daran eigenartig? 

Zitat: Träume reproduzieren unsere Wirklichkeit, ohne ein Modell vor Augen zu haben. Träume sind Simulationen. Da sie so lebensecht erscheinen, vergessen wir, dass Träume eher Spezialeffekten ähneln, die in den audiovisuellen Zentren unseres Gehirns produziert werden. Hände sind dafür ein treffendes Beispiel, aber beileibe nicht das einzige Objekt, das wir in Träumen nicht problemlos nachbilden können.

Irgendwie skurril, dass unsere mentale Rechenleistung für die Darstellung von Händen nicht ausreicht – das Ganze erinnert an KI-generierte Bilder, auch hier sind es in vielen Fällen die Hände, die verraten, dass eine künstliche Intelligenz am Werk war. 

Gegen Ende des Buches beschäftigt sich der Autor mit der Zukunft des Träumens, und hier vor allem mit den Möglichkeiten der Werbeindustrie, in unsere Träume einzugreifen und uns dadurch zu manipulieren. Ein befremdlicher Trend, den Wissenschaftler*innen auf der ganzen Welt überaus kritisch sehen. Schlussendlich geht es dann noch um Traumdeutung, einzelne Objekte via Freudscher Symbolik zu interpretieren, sieht Rahul Jandial eher skeptisch, er kann sich aber mit Traumnarrativen anfreunden, aus denen man etwas Sinnvolles herauslesen kann. 

Insgesamt ist „Warum wir träumen“ ein kluges und kenntnisreich geschriebenes Buch, das uns bewusst macht, welch großartiges Wunderwerk wir da in unseren Köpfen herumtragen. Am Tag und auch in der Nacht.

 Info: Rahul Jandial „Warum wir träumen. Was uns das Gehirn im Schlaf über unser Leben offenbart“, (aus dem Englischen von Elisabeth Liebl, Rowohlt 2024)