Nordostpassage.

Viele Jahrhunderte waren mutige Seefahrer hoch im Norden unterwegs – auf der Suche nach einem schnelleren Seeweg nach Asien als jenem rund um Afrika herum. Doch Packeis, Krankheiten und andere Hindernisse bremsten diese Entdeckungsfahrten immer wieder aus. Der Klimawandel sorgte dafür, dass die Nordostpassage viel von ihrem Schrecken verloren hat. In einer spannenden Monografie erzählt der Historiker und Russland-Experte Andreas Renner die Geschichte dieses unwirtlichen Seeweges und spannt dabei einen Bogen vom Zarenreich bis ins heutige Russland unter Putin.

Was früher eine mühselige und gefährliche Angelegenheit war – nämlich eine Fahrt in die arktischen Meere, kann heute relativ einfach erledigt werden. Vom russischen Murmansk gleich hinter der norwegischen Küste starten Passagierschiffe in Richtung Norden.

Zitat: Die große Fahrt vom Atlantischen über den Arktischen in den Pazifischen Ozean dauert knapp vier Wochen. Die Reise zwischen 70 und 80 Grad Nord, also bis zu 1500 Kilometer nördlich des Polarkreises, ist schnell per Mausklick gebucht. Für über 20.000 Dollar im umgerüsteten Forschungsschiff oder für die fast vierfache Summe in der Suite eines mondänen Passagierdampfers mit Eismeerzulassung.

Eisbärsichtung und das Versprechen unendlicher Weiten inbegriffen, merkt der Autor in seinem Vorwort an.

Doch alles der Reihe nach. Andreas Renner verfolgt die Geschichte der Nordostpassage linear, beginnend im 16. Jahrhundert. Man begegnet furchtlosen Kapitänen aus England und den Niederlanden, aus Schweden, Norwegen und freilich aus Russland. Einer von ihnen war Michail Lomonosow, der berühmteste russische Naturforscher des 18. Jahrhunderts.

Zitat: Die Expedition sollte der Wissenschaft Erkenntnisse über die Natur des Eises und die Beschaffenheit des Polarmeers liefern – und dem Zarenreich die Kontrolle über die Nordostpassage. Lomonosow träumte von am Pol geschöpften Meerwasserproben und zugleich von Warenströmen aus China, Indien und Japan. 

Unterstützung erhielt der Forscher von Zarin Katharina der Großen, die das Projekt förderte. Lomonosow selbst war bei dieser Expedition 1765 nicht dabei – er starb kurz zuvor an einer Lungenentzündung – die Fahrt endete wie so viele andere mit der Erkenntnis, dass eine Durchfahrt denkbar, aber praktisch nicht durchführbar sei.

Mehr Glück hatte die Besatzung der Vega, unter dem Kommando des schwedischen Polarforschers Adolf Erik Nordenskiöld. Er kaufte einen in Bremerhaven gebauten sogenannten Dampfwalfischfänger, mit an Bord war ein Team aus Hydrografen, Botanikern, Zoologen und Geophysikern: ein schwimmendes Arktislabor. Das Boot war mit einem 60 PS Hilfsmotor und einer doppelten Holzverkleidung ausgestattet, die die Vega schließlich dringend brauchte, denn 1878 fror sie oberhalb des Polarkreises an einem Eisblock fest. Die Forscher nutzten die sechsmonatige Winterpause für Erkundungen.

Zitat: Während des Mittagessens am 18. Juli 1879 geht plötzlich ein Ruck durch das Schiff; das Eis hat die Vega wieder freigegeben. Schon am nächsten Vormittag erreicht sie die Beringstraße. Angesichts des tadellosen Zustandes von Fahrzeug und Besatzung beschließt Nordenskiöld, die wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. Anfang September legt die Vega in Yokohama an; endlich erfährt auch die Weltöffentlichkeit von dem erfolgreichen Abschluss der Expedition.

Viele Karten mit den Routen der diversen Expeditionen beeindrucken aufgrund der Konsequenz und Ausdauer der Besatzungen – auch wenn Meutereien, Skorbut und zahlreiche Todesfälle aufgrund der extremen Kälte immer wieder für Rückschläge sorgten.

Ab den 1930er Jahren verlor die Nordostpassage ihren Schrecken, Atombetriebene Einbrecher schieben sich seither durch das Packeis und ermöglichen die Durchfahrt für Passagiere und Waren.

Dieses Buch wäre anders geschrieben worden, gäbe es keinen Klimawandel, keine Coronapandemie und vor allem keinen Krieg Russlands gegen die Ukraine, schreibt der Autor im Nachwort. Denn Wladimir Putin beansprucht in der aktuellen Arktisdoktin des Jahres 2020 den Nördlichen Seeweg weiterhin für Russland, obwohl laut Seerecht jedermann ein Durchfahrtsrecht hat.

Zitat: Putin unterschrieb das Grundsatzpapier am Morgen des letzten Julisonntags, der in Russland ein offizieller Feiertag ist: der Tag der Kriegsmarine. Die Hauptparade in Sankt Petersburg nimmt das Staatsoberhaupt stets persönlich ab, Ehrensache. Er hat den Festtag schließlich 2006 selbst eingeführt. 

Hinter Putin ist das Denkmal des Gründungsvaters der russischen Flotte zu sehen, Zar Peter, hoch zu Ross, das mit seinen Hufen eine Schlange zertritt – ein Symbol für Zar Peters Sieg über die Schweden.

Zitat: Was für Peter die Ostsee darstellte, bedeutet für Putin der Nördliche Seeweg: ein Sprungbrett für Russlands Zukunft und neue Machtfantasien.

Andreas Renner verwebt geschickt und kenntnisreich historische Erzählungen mit den derzeitigen geopolitischen Interessen Russlands und Chinas. Und er betont die Auswirkungen des Klimawandels, die zwar Transporte von Bodenschätzen wie Gas und Öl erleichtern, gleichzeitig aber die Tierwelt immer mehr Richtung Norden drängen und deren Lebensraum reduzieren. Ein nüchtern geschriebenes Buch, das einen umfassenden historischen und seefahrerischen Überblick gibt und nebenbei hochaktuell ist.

Info: Andreas Renner „Nordostpassage. Geschichte eines Seewegs“, (mare Verlag 2024)