Clara Törnvall musste 42 Jahre alt werden, bis sie endlich ihre Diagnose erhielt, lautend auf hoch-funktionalen Autismus, früher Asperger-Syndrom genannt. Diese Menschen sind durchschnittlich oder leicht erhöht intelligent, können den Alltag bewältigen und gehen auch zumeist einer geregelten Arbeit nach. Die Autorin arbeitet als Kulturjournalistin bei einem schwedischen Radiosender. Die Jahre vor der Diagnose waren geprägt von Selbstzweifeln, Fehlbeurteilungen, Therapien und einem Aufenthalt in der Psychiatrie. Sie habe sich immer anders gefühlt, schreibt die Autorin.
Zitat: Während der Autismus als Zustand biologische Ursachen hat, ist die Vorstellung von Autismus eine soziale Konstruktion. Wäre die Norm nicht an die Gehirne der Mehrheit angepasst, würde es das Etikett Autismus nicht geben. Autismus stellt etablierte Gegensatzpaare wie Nähe und Distanz, Schweigen und Reden, Normalität und Abweichung sowie Hindernis und Zugänglichkeit infrage.
Überaus offen, ehrlich und selbstkritisch erzählt Clara Törnvall aus ihrem Alltag. Die Ausprägungen dieser neurologischen Entwicklungsstörung sind sehr individuell und vielfältig. Hoch-funktionale Autist:innen nehmen das Leben deutlich anders wahr als sogenannte neurotypische Menschen. Sie haben oft das Bedürfnis, in einer leisen, reizarmen Umgebung zu leben. Sie tun sich schwer mit Small Talk, Metaphern oder nicht eindeutigen sprachlichen oder mimischen Botschaften. Sie verarbeiten Informationen eben etwas anders, fokussieren auf Details, hören leise Geräusche, die anderen Menschen verborgen bleiben. Anstrengend sei das auf Dauer, sagt die Autorin.
Zitat: Sich nicht gegen seine Sinneseindrücke wehren zu können, ständig die gesamte Umgebung aufzunehmen und sich bei jeder Bewegung des Körpers vorher überlegen zu müssen, wie das nochmal funktioniert, ist sehr, sehr mühsam. Mein Wahrnehmungsapparat läuft permanent auf Hochtouren. Ich kann keine belanglosen Geräusche, Wörter oder Bilder, die sich mir aufdrängen, ausblenden.
Das Buch heißt ganz bewusst „Die Autistinnen“, meint also explizit Frauen, die betroffen sind. Spannend ist der historische Überblick, den Clara Törnvall gibt. Denn Autismus war zunächst eine Störung, die fast ausschließlich bei Burschen diagnostiziert wurde. Bei Mädchen wurde oft nicht nachgefragt, die waren eben schüchtern oder zurückgezogen und beschäftigten sich lieber alleine. So blieb Autismus bei Mädchen unerkannt. Erst durch die Forschungsarbeit engagierter Mediziner:innen kamen Mädchen und Frauen in den Fokus.
Zitat: Autistische Frauen lernen, ihre sozialen Schwächen früh zu kaschieren, weil kleine Mädchen von Beginn an stärker für das soziale Miteinander trainiert werden […]. Um meine soziale Inkompetenz herunterzuspielen, habe ich als Erwachsene die Strategie entwickelt, in meine berufliche Rolle als Journalistin zu schlüpfen. Wenn ich in soziale Situationen mit Menschen gerate, denen ich noch nie begegnet bin, interviewe ich sie. Ich stelle Fragen – was den meisten gefällt, denn dann fühlen sie sich wahrgenommen.
In ihrem Buch, das irgendwo zwischen Sachbuch und Essay angesiedelt ist, berichtet Clara Törnvall aber nicht nur von den Entwicklungen in der Autismus-Forschung und ihren eigenen Erfahrungen, sie bringt zahlreiche Beispiele autistischer Frauen, die sie in den Sozialen Medien kennengelernt hat, erzählt von deren Lebenswegen. Und es fallen auch einige prominente Namen: Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek, die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die französische Philosophin Simone Weil. Für Clara Törnvall war die späte Diagnose eine immense Erleichterung.
Zitat: Die Diagnose ist das Beste, was meinem Selbstwertgefühl je widerfahren ist. Der Bescheid wurde zu einer Welle, die mich vorwärtstrug. Nach drei Monaten regelmäßiger Besuche in [der neuropsychiatrischen Praxis] in Hagsätra wurde ich von einer misslungenen Neurotypikerin zu einer normalen Autistin. Das Glück und die Erleichterung darüber, endlich zu passen, war unglaublich.
Endlich wusste Clara Törnvall, wer sie war, konnte Ruhe finden. Mittlerweile sind die Diagnoseverfahren ausgereift, nicht jeder Mensch, der autistische Züge an sich entdeckt, ist tatsächlich betroffen. Dieses Buch soll helfen, die Schwierigkeiten von Frauen mit der Diagnose hoch-funktionaler Autismus besser zu verstehen, sich ein bisschen in sie hineinzufühlen, toleranter zu werden gegenüber denjenigen, die eben ein bisschen anders sind.