Marseille 1940.

Die Geschichte ist bekannt und doch haben Sie so noch nie gelesen. Der Journalist und Schriftsteller Uwe Wittstock erzählt eindringlich und berührend über die Flucht vor den Nationalsozialisten in Frankreich, im Fokus steht die Stadt Marseille im Jahr 1940, Untertitel des Buches: Die große Flucht der Literatur. Während die Wehrmacht immer weiter vorrückt, drängen sich die Vertriebenen und Verfolgten an der Mittelmeerküste, warten auf Ausreisepapiere oder versuchen, illegal über die Grenze nach Spanien zu entkommen. 

Kaum schlägt man dieses Buch auf, ist man mittendrin im Geschehen. Eine Karte im Vorsatz zeigt die Grenzen zur Zeit des Waffenstillstandes zwischen Frankreich und Deutschland im Juli 1940. Zu diesem Zeitpunkt hat bereits eine schier unvorstellbare Zahl von Menschen die Flucht ergriffen, viele sind zu Fuß oder auf Fahrrädern seit Mitte Juni von Paris aus Richtung Süden unterwegs. Viele von ihnen waren seit Hitlers Machtübernahme in Deutschland in Paris im Exil. Nun ist es für sie nicht mehr sicher. Schon im Mai 1940 gab es die Anordnung, dass sich alle Deutschen und Österreicher:innen zwischen 17 und 55 Jahren sowie alle Staatenlosen an Sammelpunkten zu melden haben. Sie werden in Internierungslager gebracht – Nazi-Sympathisant:innen genauso wie Nazi-Gegner:innen. Die Publizistin Hannah Arendt muss ins Frauenlager Gurs, gemeinsam mit Lion Feuchtwangers Frau Marta, Dora Benjamin, der Schwester von Walter Benjamin und tausenden anderen Frauen.

Zitat: Im ersten Moment ist Hannah Arendt verblüfft, was für eine enorme Rolle die Kosmetik spielt in diesem Lager, das nicht viel mehr zu bieten hat als Dreck und Hitze. Viele der Frauen verbringen täglich Stunden mit ihrer Morgentoilette, schminken sich, kämmen sich endlos lange die Haare und stecken sie auf zu komplizierten Frisuren. Dann flanieren sie in kurzen Hosen oder Strandanzügen zwischen den Baracken, zurechtgemacht wie für ein Sommerfest.

Die Männer werden in anderen Lagern festgehalten, in Saint Nicolas, Le Vernet oder Les Milles. Dort findet sich auch der Schriftsteller Lion Feuchtwanger wieder, um Kräfte zu sparen fährt er mit dem Taxi ins Lager. Ein überaus groteskes Detail. Doch je länger der Krieg dauert, umso grotesker wird die Situation in den Lagern. Feuchtwanger steht ganz oben auf den Fahndungslisten der NS-Schergen. Im Lager schließt er mit seinem Leben ab. 

Zitat: In der Rückschau erkennt er eine Menge Fehler und Irrwege in seiner Biografie, und er hat, wenn er alles zusammenzählt, noch vierzehn konkrete Romanprojekte im Kopf, die er wohl nicht mehr umsetzen kann. Auf der Habenseite stehen dagegen neun Bücher, mit denen er zufrieden ist und die er literarisch für überlebensfähig hält. Ist das eine akzeptable Lebensleistung?

Ein Schnappschuss zeigt ihn abgemagert und in abgerissener Kleidung – doch genau dieses Bild wird die Befreiungsaktionen vorantreiben, denn es fällt der amerikanischen Präsidentengattin Eleanor Roosevelt in die Hände, die zu einer treibenden Kraft in der Flüchtlingshilfe wird. Sie unterstützt die Organisation rund um den Amerikaner Varian Fry, die zunächst vor allem prominente Künstler:innen aus Frankreich herausholen möchten. Schließlich drängt sich alles in Marseille. Auf einer Karte im Nachsatz des Buches sind die wichtigsten Gebäude markiert, das amerikanische Konsulat, das Büro des Centre Americain de Secours, das Fry gründet, Hotels und Bars, in denen sich die Menschen treffen, um Informationen auszutauschen. Anschaulich beschreibt der Autor den ermüdenden Kreislauf der Behördengänge, denn wenn endlich alle Dokumente beisammen sind, ist das erste schon nicht mehr gültig, die Rennerei beginnt von vorne. Fry und seine Mitarbeiter:innen unterstützen zunächst finanziell und organisatorisch, doch Frankreich gibt kaum jemandem eine Ausreiseerlaubnis, daher müssen illegale Weg über die Pyrenäen nach Spanien gefunden werden. Die prominenteste Gruppe, Heinrich Mann, dessen Frau Nelly und Neffe Golo, sowie Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel begleitet er selbst zum Grenzdorf, an dem der Kletterpfad beginnt. Von dort sind es nur wenige Kilometer, die Grenzsoldaten schauen weg oder werden mit Zigaretten bestochen. Doch Franz Werfel und Heinrich Mann sind körperlich angeschlagen.

Zitat: Golo Mann wird gelegentlich ungeduldig und steigt ein paar Meter voraus, muss dann aber auf seinen Onkel warten oder wieder ein Stück zu ihm zurückklettern. Schnell sind alle staubig und verschwitzt. Es gibt nur nackte Felsen, Geröll und ein paar Disteln. An einigen Stellen kommen sie den schroffen Abhängen gefährlich nahe, dann tastet sich Heinrich Mann Zentimeter für Zentimeter voran. Da die Frauen Kleider tragen, sind ihre Strümpfe schnell zerrissen und die Waden zerschrammt.

Rund 1.500 Personen haben Varian Fry und seine Hilfsorganisation gerettet, spannend erzählt ist auch Frys Geschichte, der irgendwann auffliegt, sich aber lange gegen eine Ablösung und Ausweisung aus Frankreich stemmt. Uwe Wittstocks überaus beeindruckendes Buch basiert auf Erinnerungen jener, denen die Flucht gelungen ist. Prominente Menschen, die zumeist auch über genügend finanzielle Mittel verfügten, und die das Erlebte schließlich irgendwann niederschrieben. 

Zitat: Neben ihnen waren zahllose Unbekannte den gleichen Gefahren ausgesetzt, doch deren Lebensspuren gingen im Chaos von Krieg und Flucht verloren. Die Schicksale, von denen hier berichtet wird, sollen deshalb stellvertretend stehen für alle die, von denen wir zu wenig wissen, um noch von ihnen erzählen zu können. Ich möchte das Buch den unbekannten Flüchtlingen widmen, die damals in Frankreich um ihr Überleben kämpften. Viel zu viele vergeblich.

Dieses Buch ist derart packend, dass man es – obwohl man weiß, wie es ausgehen wird – nicht zur Seite legen will, bis man das letzte Wort gelesen hat. Vichy-Frankreich unter dem faschistischen Philippe Petain erlässt schließlich immer schärfere Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung und gegen die noch im Land verbliebenen Flüchtlinge. Viele warten auf günstigere Fluchtgelegenheiten. Doch sie verkalkulieren sich. Ab 1942 werden rund 75.000 französische und ausländische Jüdinnen und Juden an NS-Deutschland ausgeliefert und ermordet.

Info: Uwe Wittstock „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“, (C. H. Beck 2024)