Momentaufnahme Wien.

Das neue "alte" Wien Museum am Karlplatz hat seit Kurzem seine Pforten geöffnet. Und es beeindruckt nicht nur architektonisch, sondern auch inhaltlich. Die Dauerausstellung – die übrigens kostenlos besucht werden kann – bekam mehr Raum und wurde stark erweitert. Nun ist ein Essayband erschienen, der den letzten und aktuellsten Teilbereich der Ausstellung begleitet. Als Zäsur wurde der Fall des Eisernen Vorhanges 1989 gewählt. Aus 130 Gesprächen mit Stadtbewohner:innen und Expert:innen entstand eine Momentaufnahme Wien.

Es ist ein spannender Blick auf das Wien der Gegenwart, den Herausgeberin Martina Nußbaumer, ihres Zeichens Kuratorin im Wien Museum, hier gemeinsam mit einem Team an Fotograf:innen und Interviewer:innen zusammengestellt hat. Es geht ums generelle Zusammenleben in der Großstadt genauso wie um neue Möglichkeiten des Wohnens und Arbeitens. Makro- und Mikroblicke, nennt es Martina Nußbaumer in ihrem Vorwort.

Zitat: Statt einer auf Dauer gestellten Erzählung über die jüngsten Transformationen der Stadt und die damit einhergehenden Herausforderungen wollten wir ein vielstimmiges, bewusst temporär angelegtes Porträt der Stadt der Gegenwart anfertigen, das jederzeit durch neue Stimmen ergänzt und verändert werden kann.

Das erste Kapitel ist dem Thema Öffnungen und Erweiterungen gewidmet und begibt sich auf die Suche nach Europa in Wien. Es beginnt mit einem Beitrag der Journalistin und Autorin Susanne Scholl, die die Entwicklungen in Österreich über viele Jahre aus dem Ausland beobachtet hat. Sie empfindet Wien heute als offener und weniger engstirnig als früher. Ihre frühere Euphorie für das Projekt Europa hat sich allerdings – angesichts der immer stärker werdenden rechtsextremen Parteien und er damit einhergehenden Bedrohung – etwas abgekühlt.

Zitat: Ich habe geglaubt, dass wir in einem vereinten Europa davor sicher wären – auch das war eine Illusion, leider. Sehr bald ist mir auch klar geworden, dass die meisten das vereinte Europa eigentlich nur als wirtschaftlich vereintes Europa verstanden haben – und dass die politische Vereinigung immer noch fehlt. Das fällt uns jetzt gerade auf den Kopf.

Auf knapp 570 Seiten findet sich ein breites Themenspektrum mit Schwerpunkten auf Wohnen und Arbeiten. Infrastruktur, Freizeit und Kultur kommen in verschiedensten Beiträgen vor, zwei Einzelprojekte bekommen sehr viel Raum: Die Seestadt Aspern und das alternative Wohnprojekt Bikes and Rails im Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof. Der Architekt Georg W. Reinberg erzählt im Gespräch über die Ausstattung des Hauses, die in diesem sozialen Wohnbau – aufgrund der Organisation als Baugemeinschaft – besonders hoch ist.

Zitat: Wir konnten hier auf vielen Ebenen weiter gehen als bisher: Das beginnt mit dem Holzbau in der Stadt, das war damals noch unüblich. Es setzt sich fort mit der passiven Solarnutzung, der Umsetzung als Passivhaus, dem sozialen Konzept und der Erdgeschoßnutzung mit Café und Fahrradwerkstatt und geht bis zur Selbstorganisation der Gruppe, der alternativen Finanzierung und den günstigen Wohnkosten, die wir erreichen konnten.

Trotz solcher Projekte ist für viele der Alltag in dieser Stadt nicht einfach. Ein aus Äthiopien geflüchteter Aktivist formuliert es so: „Wenn man dort bleiben könnte, wo man daheim ist, würde man es tun“, ein Syrer meint, er habe sich in Wien zunächst sehr alleine gefühlt. Nun kenne er mehr Menschen, die nicht aus Österreich sind, aber sie alle seien Wiener. Auffällig viele Namen von Gesprächspartner:innen geben Hinweise auf einen Migrationshintergrund, bilden aber gerade deshalb die Wiener Bevölkerungsrealität besonders gut ab. Ihre Geschichten erzählen von Flucht und schwierigem Ankommen, vom Sich-immer wieder-beweisen-müssen. Die Sängerin Özlem Bulut lebt seit 16 Jahren in Wien.

Zitat: Mittlerweile mache ich Jazz und sogenannte World Music, weil ich hier immer als ethnische Figur wahrgenommen werde. Weil ich aus der Türkei komme. Warst du einmal Ausländer:in, bleibst du in Österreich immer Ausländer:in, das ärgert mich. Die Leute interessieren sich viel mehr für deine Herkunft als für dein Talent.

Ohne Zuwanderung wäre Wien nicht die Stadt, die sie jetzt ist. Trotz aller Konflikte. Ein ganzes Kapitel – also zehn Gespräche – beschäftigt sich mit Rassismus und zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Und auch das Zusammenleben ist in diesem Buch ein wichtiges Thema: Wem gehört der öffentliche Raum, gibt es Platz für alle? Das Bedürfnis, draußen zu sein, wird stärker, dennoch wird in Wien noch immer dem Autoverkehr besonders viel Platz zugestanden. Viele kleine Projekte zeigen jedoch seit den 1990er Jahren, wie sich die Stadtbewohner:innen zumindest ein paar Quadratmeter zurückholen, erzählt der Falter-Journalist Christopher Wurmdobler.

Zitat: Damals begann allgemein dieses Erobern von öffentlichem Raum, von Straße, von Stadt – ein Gefühl, das am Anfang für viele unglaublich war. Dass du, wenn du dein Büro in einem alten Ladenlokal hast, eine Bank davorstellen kannst und der öffentliche Raum nicht nur eine Passage ist, wo man von A nach B kommt.

Ergänzt werden die Beiträge durch 130 Fotografien, teilweise sehr assoziativ, teilweise sehr konkret. Hier die begrünte Grätzloase, dort ein Plakat vom Lichtermeer im Jahr 1993. Hier das Bild einer Baulücke im fünften Wiener Gemeindebezirk, dort eine Dokumentenmappe mit Unterlagen zum Asylverfahren. Erstaunlich, wie viel Wien zwischen zwei Buchdeckel passt.

Info: Martina Nußbaumer (Hrsg.) Momentaufnahme Wien. 130 Stimmen zur Stadt der Gegenwart, (Falter Verlag 2024)