Goisern.

Das ganze Jahr über gibt es heuer rund um die Kulturhauptstadt Bad Ischl im Salzkammergut zahlreiche Veranstaltungen, auch in Bad Goisern, am Nordende des Hallstädter Sees. Über diesen Ort und seine teilweise recht lückenhaft dokumentierte Geschichte zwischen 1900 und 1950 hat die Historikerin Marion Wisinger, die sich in ihrer Arbeit immer wieder mit dem Vergessen und Verdrängen beschäftigt, ein recht persönliches Buch geschrieben. 

Dass dieses Buch ein bisschen anders ist als andere Ortschroniken zeigt sich bereits im Prolog. Überaus poetisch ist der Einstieg, eine Erinnerung der Autorin an das Goiserer Tal ihrer Kindheit. In der flirrenden Mittagshitze ist sie mit dem Großvater unterwegs, sie legen eine Schillingmünze auf die Gleise, setzen sich ins hohe Gras am Bahndamm und warten aufgeregt auf das Sirren des herannahenden Zuges.

Zitat: Bald darauf schossen die Garnituren der Regionalbahn vorbei und nahmen uns für einen Moment den Atem. Als der Zug nach einigen hundert Metern im Bahnhof anhielt und die Lautsprecher angingen, waren wir schon längst auf den Gleisen. Die Münze war in den Schotter gesprungen, ein namenloses Plättchen Kupfer, das ich in meiner Hand einschloss. Alles hat Bestand in anderer Form, sagte mein Großvater.

Marion Wisingers Erinnerungen fließen in alle Kapitel ein, hat sie doch die Sommer ihrer Kindheit stets bei den Goiserer Großeltern, die eine Bäckerei führten, verbracht. Das Haus blieb in Familienbesitz, viele, teilweise unsichtbare Fäden verbinden die Historikerin auch heute noch mit der Gegend. Grundlage der Ortsgeschichte sind anfangs Dokumente und Akten aus diversen Archiven. 

Zitat: Zunächst wusste niemand, wo sich das Gemeindearchiv befindet. Im Krieg war es in einer Schule untergebracht worden, dann im Musikzimmer eines Gasthauses, später im alten Gemeindeamt, gestapelt in Depots, die niemand betrat. Dann hatte sich seine Spur scheinbar verloren. Es fand sich in einer lichtlosen Kammer unter dem Dach des Gemeindeamts wieder, sowohl der Bürgermeister als auch die Gemeindebediensteten zeigten sich überrascht, denn an die papierene Verlassenschaft hatte man nicht mehr gedacht.

Eigenartigerweise fehlen dort einige wichtige Aktenordner, nämlich die von 1939 bis 1945. Eine sichtbare Lücke in der Reihe der Ordner, schreibt die Autorin. In sechs Kapiteln erzählt sie schließlich die Geschichte des Ortes, beginnend mit dem Jahr 1900, den modernen Zeiten, die auch vor ländlichen Gemeinden nicht Halt machten, dem Beginn des Fremdenverkehrs. Der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit, der aufkommende Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, die Zeit danach. Marion Wisinger weiß von Rebellen und Dorfchronisten zu berichten, von bekannten Musikern und Menschen mit speziellen Fähigkeiten, wie dem Todschmecker von Goisern, der es spürte, wenn im Ort jemand starb. Die Autorin kann aber nicht nur gut schreiben, sie kann – und das ist das Spezielle an diesem Buch – außerordentlich gut zuhören und beobachten. Oft sind es die kleinen Details in den Gesprächen, die am meisten erzählen. Etwa über das Kriegsende und den Moment der Befreiung durch die amerikanischen Soldaten.

Zitat: Heil, heil, rief die Menschenmenge, denn die meisten konnten kein Englisch. Die Amerikaner freuten sich über die Blumen, die ihnen im Vorbeifahren zugesteckt wurden. Wie jung die Amis waren, darunter kohlschwarze Buam, sie hatten Armbanduhren und spielten gern Fußball, erinnern sich die Goiserer an die Maitage 1945, und daran, dass man sich große Stücke aus den Oberschenkeln der Pferdekadaver schnitt, die auf den Straßen liegengeblieben waren.

Dass auch Goisern dunkle Flecken in seiner Geschichte der Jahre 1938 bis 1945 hat, wird nicht verschwiegen, auch wenn in der Schule der Geschichtsunterricht über Jahrzehnte mit dem Ersten Weltkrieg endete und zuhause nicht über diese Zeit gesprochen wurde. Marion Wisinger hat Belege für Vertreibungen, Arisierung und Euthanasieopfer gefunden. Aber auch für Mut und Widerstand gegen das NS-Regime. Wie viele Historiker:innen bedauert sie, nicht früher mit dem Nachfragen begonnen zu haben, damals als die Zeitzeug:innen noch lebten. Dennoch ist hier etwas Besonderes gelungen. Goisern - eine erzählte Ortsgeschichte ist eine sympathische und aufschlussreiche Mischung aus persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Recherche, aus geduldigem Zuhören und genauem Beobachten.

Zitat: Es sind die Bewohner des Orts, die Geschichte erzählen, nicht eine gültige, sondern deren so viele. Um sie herum stets die Berge, die Traun, die Wälder und Wiesen. „Das Tal ist zwei Stunden lang und nahezu eine Stunde breit“, schrieb der Gemeindevorsteher im Jahr 1909. Die Geschichte eines Orts zu erzählen ist ein Versuch, ein Kunststück, eine Provokation, in jedem Fall ein Liebesgeständnis.

Dem ist kaum etwas hinzuzufügen, außer: Dieses Kunststück ist gelungen.

Info: Marion Wisinger Goisern. Eine erzählte Ortsgeschichte, (Kremayr & Scheriau 2024)