Il Milione.

In drei Tagen, am 8. Jänner, jährt sich der Todestag eines Weltenbummlers und Abenteurers zum 700. Mal. Die Rede ist von Marco Polo, dessen Reisen entlang der Seidenstraße in Asien im Spätmittelalter für viel Aufsehen gesorgt haben. Marco Polo schildert hier seine Reiseeindrücke, erzählt allerhand Anekdoten und berichtet über so manche Kuriositäten. Der Manesse Verlag hat das Jubiläum zum Anlass genommen und Marco Polos Buch Il mit dem Untertitel Die Wunder der Welt neu aufzulegen. Mit vielen Kommentaren, Erklärungen und Ergänzungen, und mit 16 wunderbaren Farbtafeln aus einer sehr frühen Handschrift des Werkes. 

Neugieriges Betrachten und staunendes Beobachten ziehen sich durch all die 234, zum Teil nur einen Absatz kurzen Kapitel. Sie beschreiben mehrere Reisen Marco Polos zwischen 1271 und 1295. Aufgeschrieben wurde der Text ein paar Jahre später, in Gefangenschaft in Genua, in die Marco Polo aufgrund seiner Teilnahme an einer Seeschlacht gekommen war. Er diktierte den Text seinem Mitgefangenen, dem Schriftsteller Rustichello da Pisa. Im Prolog heißt es:

Zitat: Kaiser, Könige und Fürsten, Ritter und Bürger – und ihr alle, ihr Wissbegierigen, die ihr die verschiedenen Arten von Menschen und die Mannigfaltigkeit der Länder dieser Welt kennenlernen wollt -, nehmt dies Buch und lasst es euch vorlesen. Merkwürdiges und Wunderbares findet ihr darin, und ihr werdet erfahren, wie sich Groß-Armenien, Persien, die Tatarei, Indien und viele andere Reiche voneinander unterscheiden. Dieses Buch wird euch genau darüber berichten; denn Messer Marco Polo, ein gebildeter edler Bürger aus Venedig, erzählt hier, was er mit eigenen Augen gesehen hat.

Naja, ganz stimmt das freilich nicht. Marco Polo war nicht an allen Orten, die er hier beschreibt. Einiges hat er auch nur gehört. Das tut dem Lesevergnügen aber keinerlei Abbruch, außerdem werden diverse Ungereimtheiten in den zahlreichen farblich abgesetzten Kommentaren aufgeklärt. Für die Jubiläumsausgabe wurden sogar noch zusätzliche Anmerkungen hinzugefügt. Der Autor hält sich stets zurück, nur ganz wenige autobiografische Details sind in seinen Berichten zu finden. Aber er wendet sich nach fast jedem Kapitel direkt an seine Leserschaft, mit Cliffhangern, die zum Weiterlesen animieren sollen. Etwa:

Zitat: Jetzt aber genug von dieser Stadt. Von Indien rede ich heute nicht, ich komme später im Buch darauf zurück, sobald Zeit und Gelegenheit es erfordern.

Oder, recht flapsig:

Zitat: Lasst uns jetzt das Thema wechseln.

Marco Polo beschreibt im ersten Teil des Buches, also in den ersten 19 Kapiteln, zwei Asienreisen, die er mit Vater und Onkel unternimmt. Danach beginnt die eigentliche Beschreibung Asiens. Zunächst geht es um die geografische Situation des jeweiligen Landes, Lage und Erreichbarkeit, danach wendet er sich Sitten und Gebräuchen zu, beschreibt einige Persönlichkeiten sehr genau. Besonders angetan hat es Marco Polo der mongolische Großkhan Kublai, dessen glanzvollem Hof der Autor zahlreiche Kapitel widmet.

Zitat: Der mächtigste Herr aller Herren, Kublai Khan mit Namen, ist eine edle Gestalt. Er ist nicht zu groß, nicht zu klein, sondern von mittlerer Statur. Er ist ein kräftiger Mann mit wohlgeformten Gliedmaßen. Seine Gesichtshaut ist rosigweiß, die Augen leuchten dunkel, fein ist die Nase profiliert.

Es folgen Beschreibungen der Schätze, die es im Palast zu sehen gibt, Marco Polo erzählt vom Eheleben des Khans mit seinen vier Hauptfrauen und unzähligen Geliebten, von Jagdgesellschaften, und er betont immer wieder, welch guter und barmherziger Mensch der Khan sei. Er kümmere sich um seine Untertanen, lasse zum Beispiel an den Straßen Bäume pflanzen. Diese Aktion wird in einem kurzen Absatz abgehandelt, danach heißt es: 

Zitat: Mehr brauche ich über die Bäume nicht zu sagen; es gibt noch anderes zu berichten.

Zwischendurch erzählt Marco Polo mit fast kindlicher Naivität und Faszination von all den Wundern, die ihm auf seinen Reisen begegnen. So tauchen in einer Gegend namens Caragian, heute in etwa die chinesische Provinz Yunnan an der Grenze zu Myanmar, wunderliche Tiere auf. Unvorstellbar große drachenartige, überaus hässliche Tiere, schreibt der Autor.

Zitat: Ich schildere euch jetzt ihre unwahrscheinlichen Ausmaße. Es ist die reine Wahrheit: Zehn Schritte sind sie lang und dick wie ein Fass, denn ihr Umfang beträgt etwa zehn Spannen. Das sind die Größten. Vorne, neben dem Kopf, haben sie zwei Beine ohne Füße, an deren Stelle wachsen je drei Falkenkrallen oder Löwenklauen, zwei kleine und eine große. Ihre Köpfe sind riesenhaft und die Augen größer als ein Brotlaib.

Die Reiseberichte des Kaufmannes Marco Polo seien wohl irgendetwas zwischen Literatur und Gebrauchstext, so formuliert es die Übersetzerin Elise Guignard in ihrem Kommentar, sie nennt Il Milione eine fabelhafte Weltschau. Und der Sinologe und Autor Tilman Spengler kommt in seinem Nachwort zu dem Schluss:

Zitat: Es spricht für die ungeheure Kraft von Il Milione, dass auch gut siebenhundert Jahre nach dem Erscheinen des Werks Mediävisten in Europa, Ostasienwissenschaftler auf der ganzen Welt, Geografen und Literaturhistoriker zahlloser Universitäten über diesen Text grübeln und streiten. Mehr Nachwelt können nur wenige Schriften aus dem frühen 14. Jahrhundert für sich beanspruchen.

Marco Polos Reisebericht hat unser Bild von China lange geprägt und tut es wohl noch immer. Beigefügt sind der Jubiläumsausgabe 16 interessante und in den Details sehr witzige Farbtafeln aus einer Handschrift, die zwischen 1304 und 1410 entstanden ist. Eine Zeittafel und ein gut gefülltes Literaturverzeichnis runden dieses schöne Buch ab: Ein Buch zum Schmökern, Schmunzeln und Staunen.

Info: Marco Polo Il Milione. Die Wunder der Welt, illustrierte und kommentierte Jubiläumsausgabe, aus dem Französischen von Elise Guignard, mit einem Nachwort von Tilman Spengler (Manesse Verlag 2023)