Die Bibliothek der verlorenen Bücher.

Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte der Zufälle, der günstigen Umstände und Gelegenheiten. Was heute in unseren Bibliotheken steht, entstand in den Gehirnen schlauer Menschen und wurde schließlich zu Papier gebracht. Doch was ist mit den vielen Ideen und Betrachtungen, die durch äußere Einwirkungen verlorengegangen sind oder es aus anderen Gründen nicht zwischen zwei Buchdeckel geschafft haben? Alexander Pechmann versammelt einige von ihnen in seinem Buch Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Alexander Pechmann lädt ein zu einem virtuellen Gang durch seine – ebenfalls virtuelle – Bibliothek. Sie umfasst mehrere Säle, Dutzende Gänge, Hunderte Regale. Neugieriger Forschergeist trifft hier auf literaturwissenschaftliche Untersuchung. Der Autor selbst bezeichnet sich als Schatzgräber der Literatur mit Vorliebe für verlorene Texte und vergessene Geschichten.

Zitat: Es sind vor allem jene, die im Lauf der letzten Jahrhunderte durch Zufälle oder Unfälle, im Wahn, im Zorn oder mit kaltblütiger Absicht von Autoren, Verlegern, Erben, Anwälten, Pfaffen, Pädagogen, Tyrannen, Soldaten, Zensoren oder Lesern vernichtet wurden, die Naturgewalten zum Opfer fielen, die an geheimen Orten versteckt oder in unverständlichen Sprachen und unentzifferbaren Schriften verfasst wurden, sodass sie von niemandem gelesen werden können.

Immer wieder wird ein Buch aus einem der Regale herausgezogen und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Etwa jene von Hemingways Reisetasche. Diese – prall gefüllt mit Manuskripten und Entwürfen – sollte nämlich von Hemingways Frau nach Lausanne in der Schweiz gebracht werden, wo sich der damals noch vor allem als Journalist tätige Hemingway aufgrund einer Tagung aufhielt und langweilte. In einem unbeobachteten Moment wurde die Tasche am Bahnsteig gestohlen. 

Zitat: Später berichtete Hemingway mit einiger Gelassenheit von dem Zwischenfall und behauptete sogar, der Verlust sei letztlich gut für ihn gewesen. Er hatte inzwischen seinen Stil verfeinert und sich in der Kunst des Weglassens geübt. Er hatte begriffen, dass das Ungesagte oft eine größere Wirkung erzielt als weitschweifige Erläuterungen. Die Beschäftigung mit seinen früheren Versuchen wäre vielleicht ein Hindernis auf dem Weg zu dieser befreienden Erkenntnis gewesen.

Eine glückliche Fügung möglicherweise. Andererseits sind hier vielleicht außerordentliche Schriftstücke verloren gegangen, die den Lauf der Welt – zumindest im literarischen Sinne verändern hätten können. Keiner der Texte tauchte jemals wieder auf. 

Kuriose Geschichte folgt auf kuriose Geschichte, Herman Melville, der Autor des Romans „Moby Dick“ zum Beispiel verkaufte Manuskriptseiten an einen Reisekistenhersteller, der das Papier als Futter für die Innenverkleidung verwendete. Lange wurde nach diesen Kisten gesucht. Der Autor selbst hielt seine Texte wohl für wenig gelungen. Auch Franz Kafka trennte sich von einer großen Anzahl seiner Manuskripte.

Zitat: Viele seiner Texte schienen Kafka so privat, dass er sie lieber zerstörte, als sie auch nur einem einzigen Menschen anzuvertrauen. Für ihn waren es „Gespenster“, die ihn heimsuchten, und um seine Seele von diesen Heimsuchungen zu befreien, wollte er am liebsten alles verbrennen, was er geschrieben hatte.

Nicht nur Autoren verbrannten ihre Texte, Feuer war stets eine Gefahr für das geschriebene Wort. Einerseits aufgrund der Inhalte – Stichwort nationalsozialistische Bücherverbrennungen – andererseits aufgrund des Materials der Bücher. Es braucht nur einen Funken, um Papier in Flammen aufgehen zu lassen, ein Kapitel des vorliegenden Buches beschäftigt sich daher mit Bibliotheken, die durch Brände zerstört wurden: Die Schriftensammlung in Alexandria um 47 vor Christus, die Universitätsbibliothek in Sarajewo im Bosnienkrieg in den 1990er Jahren oder die Anna Amalia Bibliothek in Weimar im Jahr 2004. Hunderttausende kostbare Schriftwerke waren unwiederbringlich verloren.

Es ist eine kurzweilige und überaus spannende Lektüre, die Alexander Pechmann hier vorlegt. Er macht sich Gedanken über Bücher, die nie geschrieben wurden, über Autoren ohne Werk, über gefährliche Bücher, die daher weggesperrt oder deren Inhalte nur mündlich weitergegeben wurden. Und auch über gewitzte Autoren wie den New Yorker Joseph Gould, der den Literaturbetrieb bezüglich eines hunderte Seiten starken Hauptwerkes jahrelang an der Nase herumführte.

Zitat: Aber irgendwo in New York, in einem dunklen Kellerloch, einer leerstehenden Mietwohnung, im Staub einer Dachkammer, wartet vielleicht ein Paket mit Tausend eng beschriebenen Seiten, die all jene Stimmen enthalten, die Joseph Gould im Lauf seines Lebens hörte.

Es macht tatsächlich viel Spaß, diese Bibliothek der verlorenen Bücher zu besuchen, die Geschichten – oft nur wenige Seiten lang – sind fein recherchiert und entführen in verschiedenste Länder und Zeiten. In so einem schönen Büchlein ist es umso ärgerlicher, einen Fehler zu finden, der einem belesenen und weltgewandten Autor wie Alexander Pechmann nicht passieren sollte: Durch Venedig fließt der Canal Grande und nicht der Canale.

Leider stimmt auch das Personenregister nicht, da dürfte in der Formatierung etwas passiert sein, jedenfalls sind die verzeichneten Personen zwar irgendwo im Umfeld der angegebenen Seite zu finden, aber das ist etwas mühsam. Daher die Empfehlung: Einfach die Kapitel des Buches durchlesen, die Säle der virtuellen Bibliothek besuchen, dann entdeckt man die vielen illustren Persönlichkeiten ganz von selbst.

Info: Alexander Pechmann Die Bibliothek der verlorenen Bücher, (Schöffling & Co. 2023)