Brüchiges Schweigen.

Vor 85 Jahren verschwand Österreich von der Landkarte, Menschen wurden aus rassischen und politischen Gründen verfolgt, das NS-Regime regierte mit starker Hand. Eine bis heute wenig beachtete Opfergruppe sind die sogenannten Asozialen. Die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Halbmayr hat diesen Personen bereits zwei ausführliche Publikationen gewidmet, nun hat sie sich ein Einzelschicksal genauer angesehen. In ihrem Buch Brüchiges Schweigen verfolgt sie den Lebensweg von Anna Burger. Nach schwerer Kindheit kam sie als junge Erwachsene in Haft, wurde ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überstellt und dort ermordet.

Wer seine Familie erforscht, findet – wenn er oder sie Glück hat – irgendwann einmal einen besonderen Ordner mit Dokumenten, eine Schachtel mit Fotografien, ein Kästchen voller Briefe. In der Familienschatztruhe von Siegrid Fahrecker, der Enkelin Anna Burgers, fand sich zum Beispiel jene Fotografie, die im Buch gleich zu Beginn zu sehen ist: Großmutter, Mutter, zwei Schwestern und Protagonistin Anna im Alter von zwei Jahren vor einer Fototapete, auf der das Stift Klosterneuburg zu sehen ist.

Zitat: Das Foto lässt nichts von der Armut, in der die Familie gelebt hat, erahnen. Im Gegenteil, die beiden Frauen tragen schöne Kleider. Alle fünf Abgebildeten haben sich für den Besuch beim Fotografen herausgeputzt und ihr bestes Gewand angezogen, das ist offensichtlich. Die zwei kleinen Mädchen halten Puppen in den Händen; ob ihnen diese auch gehörten? Vermutlich handelt es sich um Accessoires aus dem Fotostudio.

Anna Burger, geboren 1913, wächst in Klosterneuburg in traurigen Verhältnissen auf, in der Schule hat sie Probleme, die Fehlstunden sorgen für mehrmaliges Wiederholen der ersten Klasse. Als junge Erwachsene begeht sie einige Diebstähle, bekommt sehr früh zwei uneheliche Kinder, heiratet entgegen dem Willen der Eltern Karl Burger, mit dem sie weitere drei Kinder hat. Bald ist die Ehe zerrüttet, Anna Burger schafft es nicht, ihre Kinder adäquat zu versorgen. Österreich gehört bereits zum Deutschen Reich, es herrschen die Nationalsozialisten, nach ihren Gesetzen gilt Anna Burger als „gemeinschaftsunfähig“ und „asozial“, sie wird als sogenannter „Volksschädling“ verhaftet.

Zitat: Je konsequenter das Ziel der `arischen Volksgemeinschaft´ angestrebt wurde, desto stärker beurteilten Polizei und Gerichte einen Vorfall weniger im Hinblick auf die begangene Tat als vielmehr auf die Person, die die Tat ausgeführt hatte. Das Bestreben ging dahin, einen bestimmten Tätertypus zu erkennen, der `gewohnheitsmäßig´, also aufgrund seiner Veranlagung, immer wieder eine Tat begehe und daher unverbesserlich sei.

Diese Menschen werden vom NS-Regime aus dem Verkehr gezogen, werden in Arbeits- oder Umerziehungslager gesteckt. 

Tatsächlich gibt es wenige Dokumente, die über Anna Burgers Leben und Leiden Auskunft geben. Die Autorin hält sich mit Spekulationen zurück, überlegt aber dennoch, ob und wie die Protagonistin Anna Burger verschiedene Entscheidungen wohl aufgenommen hat. Der Scheidungsakt gibt Auskunft über Lebensdaten und Aufenthaltsorte, oft sind Informationen zwischen den Zeilen versteckt, es finden sich subtile Hinweise in den Äußerungen der Streitparteien. Die Zeit im KZ Ravensbrück schildert die Autorin anhand von erschütternden Berichten anderer Häftlinge. Anna Burgers Leben endet in der Krankenbaracke – ein Ort, der von den Häftlingen trotz Krankheit gemieden wird, denn dort werden unliebsame Häftlinge mittels Giftspritze ermordet. Anna Burger ist eine von ihnen.

Brigitte Halbmayrs Erzählung dieser unendlich tragischen Geschichte endet aber nicht mit dem gewaltsamen Tod Anna Burgers. Die Autorin macht sich auch Gedanken darüber, wie die Angehörigen damit bisher umgegangen sind beziehungsweise heute damit umgehen, dass es eine Lücke in der Familienbiografie gab, die nur langsam, verschämt und über zahlreiche Umwege gefüllt werden konnte. Anna Burgers Tochter Stefanie – die in Pflegefamilien aufwuchs – schwieg lange, verwahrte aber ein Portrait der verstorbenen Mutter wie einen Schatz.

Zitat: Stefanie hatte das Bild schon in ihrer Kindheit erhalten, das zeigt die Aufschrift auf der Rückseite, von ihrer Großmutter verfasst: „Steffi, wenn du schlafen gehst, so bete alle Tage einen Vaterunser für deine Mama.“ Jahrzehnte später vermerkte Stefanie zusätzlich die Häftlingsnummer und den Ort der Unterbringung ihrer Mutter in Ravensbrück sowie das Datum, an dem sie selbst von der Fürsorge abgeholt worden war.

Besonders intensiv war die Zusammenarbeit der Autorin mit Anna Burgers Enkelin Siegrid Fahrecker, die seit vielen Jahren nach Spuren ihrer Großmutter sucht. 

Ein spannendes, bedacht formuliertes, gründlich recherchiertes und ungemein einfühlsames Buch über eine Frau, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sozialen Zugehörigkeit und den perfiden Gesetzen der Nationalsozialisten keine Chance hatte, ein erfülltes Leben zu leben.

Info: Brigitte Halbmayr Brüchiges Schweigen (Mandelbaum Verlag 2023)