Die Bibliothek des Wahnsinns.

Die Literaturgeschichte ist nicht nur voller Geschichten, die das Leben oder die Fantasie schrieben, sie ist auch voller kurioser Geheimnisse. Der britische Bestsellerautor Edward Brooke-Hitching nimmt seine Leserschaft in seinem neuen Buch Die Bibliothek des Wahnsinns mit auf eine Reise durch Skurrilitäten, Verrücktheiten und seltsame Bücher, die er im Laufe seiner Recherchen in den hintersten Ecken der Bibliotheken und Archive gefunden hat. 

Es ist ein Staunen und Schaudern, ein Wundern und Entdecken, ein Ah! und Oh! – sobald man dieses wunderbare Buch aufschlägt. Bereits die Einleitung ist voller schräger Details: Da geht es um tödliche Bücher, deren Einbände Arsen enthielten und ihre Leserschaft schleichend vergifteten. Und es gab auch Bücher, die aufgrund ihres Inhaltes auf kuriose Art und Weise vernichtet wurden. 

Zitat: In Italien […] zwang 1370 ein erboster Bernabò Visconti (der Herzog von Mailand) zwei päpstliche Gesandte, die Bulle zu essen, die sie ihm überbracht hatten – samt Seidenschnur, Bleisiegel und allem Übrigen. (Er sollte exkommuniziert werden, und das gefiel ihm nicht).

Was für eine Recherche! Der Autor, Sohn eines Antiquars, der als kleiner Bub schon auf Auktionen mitkommen musste, den Bücher bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr überhaupt nicht interessierten und der zugibt, er habe sich mit fünfundzwanzig hoffnungslos verliebt – in Bücher. Seither ist er auf der Suche nach literarischen Kuriositäten. Die verrückten, die abseitigen Bücher erzählen oft die rührendsten Geschichten.

Zitat: Und doch wurden diese Bücher fast immer verbannt in die finsteren Winkel der Bibliotheken und Sammlungen. Sie verschwanden im Giftschrank, im Geheimarchiv oder einfach nur im Depot. Dabei sind es lebendige, atmende Wesen. Sie enthalten Gedanken, Wissen, Erkenntnisse und Witz, die anderswo längst verschwunden sind. 

Was dieses Buch zum sinnlichen Vergnügen macht, sind nicht nur die spannenden, informativen und witzigen Texte, es sind auch die vielen, vielen Illustrationen und Abbildungen, in denen man sich verlieren kann. Oft sind ihre Geschichten nur in der Bildunterschrift zu finden, wie beim Foto einer bestickten Jacke im Kapitel namens Bücher, die gar keine sind.

Zitat: Die grobe Leinenjacke von Agnes Richter (1844-1918), die von 1893 bis zu ihrem Tod in der geschlossenen Abteilung der Universitätsklinik Heidelberg eingesperrt wurde und sich mit gestickten Worten ihrer Existenz versicherte: „Ich bin“, „Heute Fräulein“, „Bruder Freiheit“, „Ich stürze kopfüber ins Unglück“. Lesbar sind die Worte nur auf der Innenseite, die sie auf der Haut trug.

Weiter geht es mit Büchern aus Fleisch und Blut – gruslig sind jene Bücher, die in Menschenhaut gebunden wurden -, freilich beschäftigt sich der Autor auch mit Geheimschriften und literarischen Streichen. Das ist alles äußerst unterhaltsam, etwa wenn es um rätselhafte Pseudonyme geht.

Zitat: Hinter „Bickerstaff“ verbarg sich der Satiriker Jonathan Swift, der eine Vielzahl von Pseudonymen benutzte, um seine scharfe Gesellschaftskritik unter die Leute zu bringen. Mal nannte er sich Countess of Fizzlerumpf, dann Andrew Tripe oder Lemuel Gulliver. Aber rein quantitativ übertraf ihn Daniel Defoe, der etwa 200 Pseudonyme benutzte, darunter Betty Bleuskin, Boatswain Trinkolo, Count Kidney Face und Sir Fopling Tittle-Tattle.

Und auch in Lexika und Enzyklopädien ist nicht alles Gold, was glänzt. Ein Beispiel ist ein prächtiger Band des Franzosen Louis Renard aus dem Jahr 1719. Dort gibt es lustige, leuchtendbunte und großteils nicht-existente Fische – zuzüglich einer Meerjungfrau.

Zitat: Der Herausgeber leugnete nicht, dass die Abbildungen zu einem guten Teil der künstlerischen Fantasie entspringen, aber sie haben unser Bild von den Tropen genauso geprägt wie die Gemälde Gauguins oder die Erzählungen von Jack London und Herman Melville. Viele Bilder erinnern an tatsächliche Spezies, andere hingegen ähneln doch eher Vögeln und Menschen, insbesondere wenn sie mit geometrischen Figuren, Sonnen, Monden, Sterne oder Zylindern geschmückt sind.

Bücher gibt es in allen Größen, auch hier hat der Autor die kuriosesten Exemplare zusammengesucht. Die kleinsten sieht man nur unter dem Mikroskop, die größten lassen sich kaum von A nach B transportieren. Die größte mittelalterliche Handschrift, die noch heute existiert, ist der Codex Gigas. Der Legende nach musste der böhmische Mönch Hermann der Einsiedler innerhalb einer Nacht das gesamte Wissen der Menschheit aufschreiben. Das ging aber nicht ohne Hilfe.

Zitat: In seiner Verzweiflung rief er den Teufel an, und der Herr der Finsternis ließ sich nicht lange bitten. Als die Sonne über den Horizont stieg, hatte Luzifer seine Arbeit vollendet und eine prächtig illuminierte Handschrift geschaffen. Voller Dankbarkeit fügte Hermann noch ein ganzseitiges Portrait seines Retters hinzu.

Furchteinflößend und ein bisschen lächerlich schaut der Teufel aus: mit grünem Gesicht, roten Hörnern und einem weißen Höschen mit kleinen roten Stacheln. Das Buch überstand sogar einen Raub durch schwedische Truppen im Dreißigjährigen Krieg und einen Brand in Stockholm, bei dem man die 75 Kilo schwere Teufelsbibel kurzerhand aus dem Fenster warf, um sie zu retten.

Zitat: Glücklicherweise wurde der Aufprall durch einen Passanten gemildert, dem das Buch auf den Kopf fiel. Das Buch überlebte und verlor bloß ein paar Blätter. Wie es dem Kontrahenten erging, ist nicht bekannt.

Mit einem Augenzwinkern und dennoch wissenschaftlich fundiert verführt der Autor in diesem einzigartigen Buch zu einem wundervollen Spaziergang durch die Jahrhunderte der Literaturgeschichte – zu den Verrückten, den Unangepassten, den Außenseitern. Große Empfehlung!

Info: Edward Brooke-Hitching Die Bibliothek des Wahnsinns (Knesebeck 2023)