Der Sessel.

Dokumente, versteckt in der Sitzfläche eines Sessels. Zufällig gefunden bei der Absicht, den Sessel restaurieren zu lassen. Dokumente eines deutschen Nationalsozialisten, der die letzten Kriegsmonate in Prag zubringt. Durch Zufall geraten diese Dokumente in die Hände des jüdischen Historikers Daniel Lee. Ihn lässt die Geschichte nicht mehr los, er macht sich auf die Suche nach Robert Griesinger. In seinem Buch Der Sessel erzählt er die Geschichte eines ganz normalen Täters. 

Der Sessel gehört zum Zeitpunkt der eigenartigen Entdeckung einer Tschechin, die jetzt in Amsterdam lebt. In einem Altwarengeschäft in Prag wurde er von der Frau, damals noch Studentin, gekauft. Als sie eine Familie gründet und in die Niederlande zieht, ist auch der Sessel mit dabei.
Zitat: Auf zahllosen Familienfotos ist er zu sehen. […] Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass ihr geliebter Lehnstuhl lange vor ihrer Zeit ein ganz anderes Leben gehabt haben könnte.
Die im Sessel entdeckten Dokumente haben mit der Familiengeschichte der Frau nichts zu tun, sie stammen aus den Jahren 1933 bis 1945 und verraten Einzelheiten vom Leben eines Mannes namens Dr. Robert Griesinger, seines Zeichens Jurist. 

Autor Daniel Lee ist zunächst einmal einfach nur neugierig.
Zitat: Seine Biografie hat mich interessiert, weil sie ein Schlaglicht auf den profanen Alltag und die Mechanismen des NS-Regimes wirft.
Und so macht sich der Autor auf den Weg, zuerst nach Prag, wo die Dokumente ja vermutlich im Sessel versteckt wurden. Daniel Lee beginnt mit dem Fragenstellen daher in einer Werkstatt, in der Möbel restauriert werden.
Zitat: Einer der Polsterer erzählte, dass er bei Sofas und Sesseln praktisch in jedem zehnten Möbelstück auf Briefe oder Dokumente aus den Jahren der kommunistischen Herrschaft stoße. Er habe nie was davon gelesen. Man muss wohl davon ausgehen, dass sich auf diese Weise Tausende von historischen Dokumenten (und Forschungsprojekten) in Nichts auflösen.
Eine Information, die den Autor zwar nicht weiterbringt, aber dennoch interessant ist. Im Buch dokumentiert er immer wieder solche Momente. 

Doch nach und nach findet Daniel Lee weitere Fragmente aus dem Leben Griesingers. Er hatte Vorfahren in New Orleans, er wohnte in Stuttgart, er war Familienvater, er starb bei Kriegsende in Prag. Doch dann stößt der Autor auf ein Detail, das alles ändert. Griesinger war Obersturmführer der SS.
Zitat: Diese beiden Buchstaben neben seinem Namen veränderten meine Wahrnehmung seiner Person von einer Sekunde auf die andere. Während ich eben noch geglaubt hatte, einen unbedeutenden, vielleicht ganz harmlosen Beamten zu jagen, und sogar mit dem Gedanken gespielt hatte, er sei vielleicht völlig unpolitisch gewesen, war dieses Bild jetzt zerbrochen. Es war klar, dass ich etwas ganz anderem auf der Spur war.

Das Interesse am mysteriösen Möbelstück weicht der Auseinandersetzung mit der Person Robert Griesingers. Der Autor lernt seine beiden Töchter – nun bereits betagte Damen – kennen. Die Beschäftigung mit Griesingers Biografie und die vielen recht persönlichen Gespräche mit seinen Töchtern verwischen die Grenzen zwischen dem Historiker und der Person des Autors.
Zitat: Mir, als einem jüdischen Historiker, dessen Familie von den Katastrophen und Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust schwer gezeichnet ist, war die Zweideutigkeit meiner Rolle stets bewusst.
Denn Daniel Lee erfährt im Laufe seiner Recherchen alle Spielarten der im deutschsprachigen Raum nur spärlich vorhandenen Beschäftigung mit der Vergangenheit in Täter-Familien. Das selektive Vergessen, das Wegschieben, das Klein-Reden, das Darstellen einer einzelnen Person als schwarzes Schaf der Familie, das Um-Schreiben von Geschichte. Fragen wurden kaum gestellt und wenn, dann gab es keine oder nur unbefriedigende Antworten. In der Erinnerung seiner Töchter blieb Robert Griesinger der liebevolle Vater und der fleißige Beamte, der in Anzug und Krawatte vom Schreibtisch aus arbeitete.
Zitat: Es waren die Väter anderer Kinder gewesen, die schwarze Uniformen trugen oder in Konzentrationslagern arbeiteten.

Fünf Jahre ist der Autor Daniel Lee den Spuren Robert Griesingers gefolgt und immer tiefer in dessen Leben eingetaucht. Sein Buch ist aus mehreren Gründen lesenswert: 
Es zeigt auf gekonnte und angenehm uneitle Art, wie zeitgeschichtliche Forschung passiert, in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes: Ein zufälliger Fund, Missverständnisse, Einbahnstraßen, unerwartete Wendungen. Es beschäftigt sich mit der Diskrepanz zwischen Privatleben und beruflichen Entscheidungen von NS-Tätern. Hier fröhlich-liebevolles Familienleben, dort Unterschriften, die anderen unsagbares Leid zufügen. Und es erzählt die Geschichte eines eher unwichtigen SS-Angehörigen, der aber durch seine Entscheidungen die Schicksale zahlreicher Familien mitbestimmte. 
Zitat: Einem solchen Mann wieder greifbare Gestalt zu geben, macht ihn zu einem Beispiel für Tausende von anonymen Tätern, deren Handlungen so viele Leben zerstört haben, deren Biografien aber nie ans Licht gebracht worden sind.
Griesinger war ein kleines Rädchen in der NS-Maschinerie, das diese jedoch am Laufen hielt. Es ist wichtig, dass diese Geschichten erzählt werden.

Info: Der Sessel von Daniel Lee, aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff (dtv 2021)