Breath - Atem.

In Zeiten wie diesen bleibt uns immer wieder die Luft weg. Wir lesen von steigenden Covid-Infektionszahlen, von Verzögerungen bei der Lieferung von Impfstoffen, von partyfeiernden Skilehrern in Tiroler Skiorten. Und wir tragen Maske. Selbstgenähten Mund-Nasen-Schutz und nun auch verpflichtend FFP2-Masken. Kaum haben wir sie wieder abgenommen, wird einmal tief durchgeatmet. Da kommt der US-Bestseller von James Nestor gerade recht. Breath – Atem, heißt das Buch, und es beschäftigt sich mit neuem Wissen über die vergessene Kunst des Atmens.

Wir atmen. Ständig. Denn wenn wir nicht mehr atmen, sind wir irgendwann tot. Dass richtiges Atmen aber viel mehr kann als „nur“ lebenserhaltend zu wirken, zeigt der US-amerikanische Journalist und Autor James Nestor. Er litt viele Jahre an Atemwegserkrankungen, Schnarchen und Schlafapnoe, also nächtlichen Atemaussetzern. Sein Buch beruht zu großen Teilen auf einem medizinisch überwachten Experiment, bei dem der Autor selbst das Versuchskaninchen gibt. Zunächst verklebt er zehn Tage die Nasenlöcher und atmet nur durch den Mund.

Zitat: Mundatmung verändert den Körper physisch und wirkt sich negativ auf die Atemwege aus. Durch den Mund eingeatmete Luft hat weniger Druck, wodurch das weiche Gewebe im Rachenraum erschlafft und nach innen sinkt. Weniger Platz erschwert das Atmen. Mundatmung führt zu noch mehr Mundatmung.

Der Blutdruck steigt, das Schnarchen wird stärker, Mund und Rachen trocknen aus. Nicht umsonst nannten die alten Chinesen die durch den Mund eingeatmete Luft „unguter Atem“. Dann wird zehn Tage nur durch die Nase geatmet, in der Nacht verklebt der Autor sogar seine Lippen, um nicht in Versuchung zu kommen, den Mund zu öffnen. 

Zitat: Nasenatmung zwingt einen Luftstrom durch die weichen Gewebe des Rachens, weitet die Atemwege und macht das Atmen leichter. Nach einer Weile sind diese Gewebe darauf trainiert, in der geöffneten Stellung zu bleiben. Nasenatmung führt zu noch mehr Nasenatmung.

Nun, das ist jetzt alles nicht ganz neu, aber wer sich mit seiner Atmung beschäftigt, tut seinem Körper tatsächlich viel Gutes. Der Schlaf wird ruhiger, die Konzentration besser, der Alltag ausgeglichener. Immer wieder reist der Autor in die Vergangenheit, als die Kunst des Atmens in verschiedenen Kulturen ganz selbstverständlich war. Und er erzählt von Menschen, die sich mit dem Atem und dem Atmen auseinandersetzen. Kaum einer dieser „Pulmonauten“, wie James Nestor die Pioniere nennt, erlebte Ruhm oder Respekt, doch viele ihrer zwischenzeitlich vergessenen Methoden wurden wiederentdeckt und wissenschaftlich erforscht.

Zitat: Unser Körper arbeitet am besten in einem Zustand des Gleichgewichts, wenn er zwischen Handlung und Entspannung, Tagtraum und logischem Schließen wechseln kann. Dieses Gleichgewicht wird vom Nasenzyklus beeinflusst und möglicherweise sogar kontrolliert. Es ist ein Gleichgewicht, das man auch künstlich beeinflussen kann.

Bei der Lektüre dieses Buches ertappt sich die Leserin immer wieder dabei, wie sie innehält, sich mal das eine, mal das andere Nasenloch zuhält, den Atem strömen lässt oder die Luft anhält. Durch die Covid-Nasenabstriche wurde uns bewusst, wie tief dieses Höhlensystem in unseren Schädel hineinragt, und James Nestor nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine faszinierende Reise in die Nase.

Zitat: Bei jedem einzelnen Atemzug strömen mehr Luftmoleküle durch Ihre Nase, als alle Strände der Welt Sandkörner haben – Billionen und Aberbillionen Moleküle. Diese kleinen Luftteilchen stammen alle aus wenigen Metern Umkreis und strömen in Spirallinien auf Sie zu wie der Sternenhimmel in einem Van Gogh-Gemälde; mit etwa acht Stundenkilometern wirbeln sie durch Ihre Atemwege in Richtung Lunge.

Das Atem-Experiment zieht sich durch die ersten beiden Teile des Buches, gespickt mit beschwingten Anekdoten und überraschenden Erkenntnissen. Im Anhang werden auch entsprechende Atemübungen beschrieben. Im dritten Teil geht es dann um Atmen für Fortgeschrittene, hier werden die äußersten Grenzen der Atmung ausgelotet, diese Atemtechniken sollten wohl besser zunächst unter Aufsicht ausgeführt werden. Im Epilog betont der Autor außerdem:

Zitat: Mit schnellem, langsamem oder angehaltenem Atem lässt sich keine Embolie therapieren. Lange und intensiv durch die Nase auszuatmen, hilft nicht gegen eine neuromuskuläre Erbkrankheit. Keine Atemübung wirkt gegen Krebs im Endstadium. Diese schweren Leiden erfordern unbedingt ärztliches Eingreifen.

Doch wer von Zeit zu Zeit aus dem Gleichgewicht gerate, der könne es mit Atemübungen wiederherstellen, ist der Autor überzeugt. James Nestor ist nach seiner jahrelangen Recherche wohl ein Meister des Atmens, und wenn es seine Leserinnen und Leser zumindest zum Lehrling schaffen, ist das ja auch nicht schlecht. Denn wer das Buch zu Ende gelesen hat, hat dabei rund 10.000 mal geatmet, und zwar im besten Fall freier, langsamer und bewusster.

Info: Breath – Atem. Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens von James Nestor, aus dem Englischen von Martin Bayer (Piper 2021)