Die Welt der Stoffe.

Stoffe begleiten uns durch unser Leben, denn sonst würden wir erfrieren, das Bett wäre hart, Bücher würden nicht existieren. Stoffe sorgten für den Ausbau von Handelsrouten, waren verantwortlich für den Beginn des Industriezeitalters. Für Seide und Spitzenstoffe wurden Kriege geführt, mit Wollsegeln die Meere erobert. Und auch im täglichen Sprachgebrauch finden sich immer wieder Redewendungen, die irgendwie mit Stoffen zusammenhängen. Die britische Autorin Kassia St. Clair hat dies alles zu einem spannenden Buch verwoben, und erzählt in Die Welt der Stoffe eine alternative Menschheitsgeschichte.

Textilien und Stoffe begleiten die Menschheit schon viele Jahrtausende, Frauenhände nähten, webten, klöppelten und stickten. Wären diese Materialien erhalten geblieben, sprächen wir heute vielleicht von der Seidenzeit, der Wollzeit oder der Leinenzeit – anstatt von Stein-, Bronze- oder Eisenzeit, die aufgrund der von Männern gefertigten Waffen und Gebrauchsgegenstände aus diesen Materialien so benannt wurden. Und auch in der Mythologie finden sich Analogien zu Stoffen und Textilien, etwa in der Erzählung über drei Göttinnen, von denen die alten Griechen glaubten, dass sie über das Schicksal jedes einzelnen Menschen bestimmen würden. Drei Schwestern, die jedes Kind kurz nach der Geburt besuchen.
Zitat: Die mächtigste von ihnen, Klotho, spann mit ihrer Spindel den Lebensfaden; Lachesis Aufgabe war es, den Lebensfaden zu bemessen, und Atropos würde ihn zerschneiden und damit die Art und den Zeitpunkt des Todes bestimmen. Kein Mensch oder Gott verfügte über die Macht, ihre Entscheidungen zu ändern, sobald sie gefallen waren.

Wolle, Seide, Spitze, Fell, Baumwolle – all diese Stoffe sind Sinnbilder für die Menschheit selbst, haben ihr geholfen zu überleben, indem sie sie wärmten oder indem sie zu einem wichtigen Handelsgut wurden. Golddurchwirkte Umhänge signalisierten Macht, feinste Klöppelarbeiten wurden zwar von Frauen gemacht, jedoch oft von männlichen Herrschern stolz getragen. Auch das Buch „Die Welt der Stoffe“ fühlt sich edel an, ist in Leinen eingeschlagen, auf dem gold-glänzende Fäden zu sehen sind. Die Worte Text und Textil kommen ja beide aus dem Lateinischen texere, das bedeutet weben.
Zitat: Als eine der ersten Techniken spielte die Stoffherstellung eine wichtige Rolle in der Werkstoffhistorie des geschriebenen Wortes. Papier wurde einst aus Lumpen gemacht, und viele Texte sind in Textilien eingewickelt oder damit bedeckt worden, sowohl um sie zu schützen als auch um ihren Wert zu steigern. Buchbinder haben lange Zeit mit Nadel und Faden gearbeitet.

In 13 sehr unterschiedlichen Kapiteln beschäftigt sich die Autorin mit der Herstellung und Bedeutung diverser Textilien und Stoffe. Da geht es um Leichentücher, in die Mumien gewickelt wurden, wasserdichte Wollsegel, die den Wikingern die Überfahrt über die Meere ermöglichten, oder feinste Spitze, die lange als Luxusgut galt. Und im Kapitel „Extreme Schichten“ untersucht die Autorin, mit welcher Kleidung es die ersten Everest-Bezwinger vielleicht leichter gehabt hätten.
Zitat: Wenn Kleidung so versagt, dass an bestimmten Körperteilen die Temperatur unter null sinkt, hat das dramatische Folgen: Die ersten Verluste sind für gewöhnlich die Spitzen von Ohren und Nase, Fingern, Händen, Zehen, Füßen und männlichen Genitalien. […] Manche Erfrierungen können aufgetaut werden, in leichten Fällen lässt sich die Haut ab und erneuert sich wie bei einer Blase. Doch auch heute bleibt bei schweren Fällen nur die Amputation.
Einer der ersten, der sich an die Besteigung des Achttausenders gemacht hatte, war George Mallory, der anhand eines eingenähten Etiketts am Hemdkragen identifiziert wurde. Sein erstarrter Leichnam wurde 1999 an der Nordseite des Everest entdeckt, seine Kleidung war immer noch gut erhalten, er trug mehrere Schichten verschiedener Stoffe, dazu Wollsocken. Anhand dieser Episode und der Weiterentwicklung der benötigten Kleidungsstücke erfährt man viel über daunengefüllte Jacken, die im versnobten australischen Alpine Club zunächst belächelt wurden, über Fleece-stoffe und Gore-Tex, bis hin zu Naturmaterialien wie Merinowolle, die heute als Nonplusultra in Sachen Bergbekleidung gilt.

Kaum etwas ist uns so nah wie Stoffe, kaum etwas ist derart persönlichkeitsstiftend wie unsere Art uns zu kleiden.
Zitat: Nachdem Adam und Eva von der verbotenen Frucht des Baums der Erkenntnis gekostet hatten, erkannten sie, dass sie nackt waren und versuchten sich sofort mit Feigenblättern zu bedecken. Unsere Kleidung und Einrichtungsgegenstände ermöglichen es uns, unter den unwirtlichsten klimatischen Bedingungen zu überleben (selbst im Weltraum) und uns wie Avatare unserer Identität und Sehnsüchte zu verhalten.

Es ist eine äußerst spannende und informative Reise durch die Welt der Stoffe, ausführlich und gut recherchiert, angenehm zu lesen und mit vielen Extras. Anmerkungen und Literaturhinweise sind am Ende des gelungenen Buches genauso zu finden wie ein Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe erklärt werden: von A wie Alaun – die Beize zur Fixierung von Farben – bis Z wie Zwirn.

Info: Die Welt der Stoffe von Kassia St. Clair, aus dem Englischen von Marion Hertle (Hoffmann und Campe Verlag Hamburg 2020)