Wie Krankheiten Geschichte machen.

Lesen hilft gegen die Isolation. Viele kleine Buchhändler haben in kürzester Zeit auf Online-Vertrieb umgebaut, nutzt diese Möglichkeit und unterstützt regionale Geschäfte! Das folgende Buch ist zwar schon letztes Jahr erschienen, hat aber gerade an Aktualität gewonnen. Wie Krankheiten Geschichte machen heißt es und untersucht, welche Krankheiten welche Auswirkungen auf das Weltgeschehen hatten bzw. wie kranke Kaiser, Könige oder Präsidenten den Gang der Welt beeinflussten.

„Geschichtsforschung im Konjunktiv“ – so bezeichnet der Deutschlandfunk die Arbeitsweise von Ronald Gerste. Der Autor ist Arzt und Historiker, was bei dieser Thematik ein Glücksfall und von Vorteil ist. Dazu kommen die Lust am Erzählen und die Akribie in der Recherche, die dieses Buch zu einer hochinteressanten Lektüre machen.

Zitat: Elf Jahre lang hatten sie fast ununterbrochen Krieg geführt, gegen eine Vielzahl von Feinden, und immer waren sie siegreich gewesen – dank seiner Führung und dank ihrem tiefen Glauben, dass er nicht nur mit den Göttern im Bunde stand, sondern offenbar selbst der Sohn des höchsten Gottes Zeus war.
Die Rede ist von Alexander dem Großen, den seine Getreuen hier betrauern, den genialen Staatsmann, den grausamen Welteneroberer. Er starb im Jahr 323 vor Christus, woran – darüber streiten Wissenschaftler noch heute: Malaria, Typhus, West-Nil-Fieber, eine Perforation des Magens oder doch ein Giftanschlag?
Zitat: Mit ihm ging die Vision, die Völker überall auf der (bekannten) Welt könnten sich einer einzigen, vielgestaltigen Kultur angehörig fühlen, einer Kultur, in der Wissenschaft und Kunst, Poesie und Philosophie einen hohen Rang einnahmen.

In überschaubaren Kapiteln begibt sich der Autor auf eine medizinisch-historische Reise. Details, die Krankheitssymptome oder damalige Behandlungsmethoden betreffen, lassen den Leser erschauern. Die Pathobiografie, die der Autor hier betreibt, also die Verknüpfung von Medizin und biografischer Geschichtsschreibung, lässt ihn mutmaßen, wie sich der Lauf der Welt verändert hätte, wäre dieser oder jener Herrscher nicht erkrankt. Was wäre anders verlaufen? Etwa im Fall des deutschen 99-Tage-Kaisers Friedrich III. aus dem Hause Hohenzollern, der zunächst an Heiserkeit litt, bei dem aber dann eine Geschwulst am Kehlkopf entdeckt wurde. In Wirklichkeit eine viel zu spät erkannte Krebserkrankung. Friedrich starb im Jahr 1888.
Zitat: Zu Grabe getragen wurde mit Friedrich III. auch die Vision eines ganz anderen Deutschland. Ob der Verstorbene die Hoffnungen der Liberalen erfüllt hätte oder in den Machtstrukturen eines nur begrenzt demokratischen, obrigkeitszentrierten Staatswesens gefangen gewesen wäre, darüber kann nur spekuliert werden.

Friedrichs Sohn übernahm und führte das Land schließlich in den Ersten Weltkrieg.
Warum die englische Königin Mary Tudor als „Bloody Mary“ in die Geschichte einging und was es mit der Kurzsichtigkeit des Schwedenkönigs Gustav Adolf auf sich hatte, wird in diesem Buch ebenso ausführlich dokumentiert, wie die Frage, wie es den Lauf der Geschichte verändert hätte, wäre der große Hypochonder Adolf Hitler als junger Soldat tatsächlich dauerhaft erblindet.
Und welche Auswirkungen hatten große Epidemien? Cholera, Tuberkulose oder die Pest. Letztere sorgte über Jahrhunderte in mehreren Wellen für Tod und Verzweiflung, erst im Zeitalter der Aufklärung wurde ihr durch hygienische Maßnahmen Einhalt geboten.
Zitat: So grausam der Schwarze Tod war, für viele Überlebende brachte er Verbesserungen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation. Es herrschte Arbeitskräftemangel, weshalb der Handwerkergeselle und vor allem der Landarbeiter gegenüber dem Landbesitzer oder dem Grundherrn eine ungewöhnlich gute Verhandlungsposition hatte.

Krankheiten sorgten stets für ein Umdenken, in Medizin, Gesellschaft und Politik: neue Medikamente wurden gefunden, hygienische Maßnahmen gesetzt, Frauen in der Thronfolge berücksichtigt. Dass wir heute nicht vor Pandemien gefeit sind, wissen wir spätestens seit den ersten Corona-Infektionen. Doch auch andere Krankheiten beschäftigen uns weiterhin. Aids etwa.
Zitat: Das Immundefizitsyndrom ist nicht Geschichte, sondern Gegenwart - und wird auch in Zukunft von Bedeutung sein.
Aids hat unseren Alltag in vielerlei Hinsicht neu definiert, vor allem in gesellschaftspolitischen Belangen, auch wenn der Weg zur globalen Gleichstellung der LGBTQ-Gemeinschaft noch ein weiter ist. Dieses Buch erschien ein halbes Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Auch sie sorgt in unserer Gesellschaft für drastische Veränderungen. Und wird noch lange Zeit nachwirken. Ob dies auf positive oder negative Weise passiert, kann jeder einzelne von uns zumindest ein bisschen beeinflussen.

Info: Wie Krankheiten Geschichte machen von Ronald D. Gerste (Klett-Cotta, Stuttgart 2019)