Die sieben Leben der Marie Schwarz.

Sie haben sicher schon einmal beim Altwarentandler oder auf einem Flohmarkt ein persönliches Dokument einer Ihnen unbekannten Person entdeckt. Ein Fotoalbum, zum Beispiel, oder einen Taschenkalender. Vielleicht haben Sie es durchgeblättert und darüber nachgedacht, was für ein Leben diese Person geführt hat, ob sie arm oder reich war, welchen Beruf sie ausübte. Die Erste Group – Nachfolgerin der „Ersten Österreichischen Spar-Casse“ - hat in ihrem historischen Archiv ein Sparbuch gefunden, das im Jahr 1819 einem jungen Mädchen aus armen Verhältnissen geschenkt wurde. Recht viel mehr ist von Marie Schwarz nicht bekannt. Sieben Autorinnen haben das Experiment gewagt und sich eine Lebensgeschichte ausgedacht.

Marie Schwarz, geboren 1807. Ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, Schülerin bei den Ursulinen. Als die „Spar-Casse“ ein Sozialprojekt startet, um 100 „hilfswürdige Kinder der unteren Klassen“ zu unterstützen, wird sie von ihren Lehrerinnen vorgeschlagen: Sie sei sehr talentiert, gehöre zu den Besten. Und so erhält die Zwölfjährige das Einlagebuch mit der Nummer 1. 10 Gulden – heute rund 190 Euro – liegen darauf.

Zitat: Frau Schwarz kam mehrmals in der Woche in unsere Bank. Sie gehörte zu der aussterbenden Generation von Frauen, für die auch banale Erledigungen Bedeutung haben und daher in feinem Zwirn begangen werden. Selbst, wenn sie Wechselgeld holte oder einen Erlagschein einzahlte, trug Frau Schwarz den Lidschatten bis zu den Augenbrauen und ein elegantes Kostüm.
Vea Kaiser hat die Geschichte in die Jetzt-Zeit geholt, wo die imaginierte Marie Schwarz ein Café in der Wiener Leopoldstadt führt. Auch die Autorinnen Gertraud Klemm, in deren Geschichte Marie und das Sparbuch recht versteckt vorkommen – und Eva Rossmann – die in ihrer Erzählung Ahnenforschung und die aktuelle Flüchtlingsfrage verquickt – lassen Marie im Heute oder zumindest in den vergangenen Jahrzehnten leben, ebenso Doris Knecht.
Zitat: Du bist vierzehn Jahre alt, du heißt Marie Chantal Schwarz, und als du an diesem Tag mit der U-Bahn nach Hause fährst, bist du nicht mehr ein Nichts, das nichts hat. Du hast jetzt etwas. Du besitzt jetzt etwas, nicht wenig: für deine, für eure Verhältnisse richtig viel. […] Du hast etwas, und du hast ein Geheimnis, und irgendwie kann dir deine Mutter jetzt nichts mehr.

Es ist wenig, was sich aus den Ein- und Auszahlungen herauslesen lässt: zunächst bleibt das Sparbuch fast 30 Jahre unberührt, danach folgen ein paar Ein- und Ausgänge. Der letzte Eintrag im Jänner 1896 weist ein kleines Guthaben aus – 5 Gulden und 33 Kreuzer, weniger als 80 Euro. Was ist über die vielen Jahre mit Marie Schwarz passiert? Es bleibt viel Platz für Fantasie. Jede der sieben Autorinnen wählt einen anderen Ansatz, erzählt das Leben der Marie Schwarz auf ihre Weise, in ihrem Stil. Lydia Mischkulnig lässt die Geschichte damals spielen, als Marie Schwarz tatsächlich gelebt hat. In den bewegten Jahren der Revolution 1848. In gesellschaftspolitischen Umbrüchen und Aufbrüchen. Auch Angelika Reitzers Erzählung spielt in der historischen Zeit.
Zitat: Der Vater geht mit dir in den Hof, er sagt: „Marie, kleine Marie.“ Dann lange nichts, er dreht sich um wie wild, rennt auf die Gasse, du hinterher. Er schaut nicht, hört nicht, ein Nachbar drückt sich an euch vorbei. Die Augen vom Vater sind feucht, er wischt die Tränen nicht weg, sein Gesicht ist dreckig. Wenn du so ausschaust, schickt er dich zum Brunnen und sagt: Wasch dich, Kind.

Allen Geschichten ist gemein, dass Marie Schwarz durch das ihr zugedachte Sparbuch stärker wird – auch wenn sie kein Geld hat, um es einzuzahlen. Allein der Gedanke, dass sie etwas besitzt, verändert ihr Leben. Sie kauft ein Kaffeehaus und kredenzt dort ihre berühmten Punschschnitten, sie wird Mathematik studieren, sie startet ein Leibwäsche-Unternehmen, sie notiert Kochrezepte, die als Buch veröffentlicht werden. Und in Cornelia Travniceks Erzählung emigriert sie in die Vereinigten Staaten. Viele Jahre später kehrt ihre Freundin mit dem Sparbuch nach Wien zurück.
Zitat: Ich lege das getrocknete Blümchen in die linke, gewölbte Seite des Medaillons und betrachte Maries Porträt in der rechten. Sie sieht sich selbst nicht ähnlich. Viel zu streng blickt sie dem Fotografen entgegen, angespannt beinahe. Der Kragen des Kleides steht aufrecht, ihr Pompadour sitzt tadellos. Nichts von der sie ständig umwehenden Freude, die fortwährend wie ein starker Wind ihr Haar und ihre Garderobe zauste.

Ein ganzes Leben in einem schmalen Sparbuch. Wer Marie Schwarz tatsächlich war, ist nach der Lektüre dieses Buches weiter unklar. Wer sie gewesen sein könnte, ist um sieben Facetten reicher. Und wir fragen uns: Welche Spuren werden wir hinterlassen? In einer Zeit, in der Ahnenforschung zum weltweiten Hobby wird, ist dieses Buch ein erquickliches, kurzweiliges und spannendes Gedankenexperiment.

Info:  Die sieben Leben der Marie Schwarz von Vea Kaiser, Gertraud Klemm, Doris Knecht, Lydia Mischkulnig, Angelika Reitzer, Eva Rossmann, Cornelia Travnicek (Molden Verlag, Wien – Graz 2020)