Harry Merl. Vater der Familientherapie.

Vor 80 Jahren hat der Zweite Weltkrieg begonnen, ein Krieg, der rund 120.000 österreichische Jüdinnen und Juden ins Exil trieb und 65.500 das Leben kostete. Nur ein Bruchteil der jüdischen Bevölkerung überlebte in Wien. Einer von ihnen ist Harry Merl, der Vater der Familientherapie, wie er gerne genannt wird. Über seine Pionierarbeit und seine Erfolge als Psychotherapeut ist schon einiges geschrieben worden, unbekannt war bisher Harry Merls berührende Kindheit während des Nationalsozialismus. Merls Freund, der Autor, Regisseur und ebenfalls Psychotherapeut Johannes Neuhauser hat nun Erinnerungen zusammengetragen.

Es ist ein sehr persönliches, ein sehr leises Buch. Haptisch ansprechend, dickes Papier, angenehm anzugreifen. Kurze Kapitel, Erinnerungen, Gedanken und Berichte, kaum eine Seite ohne Bilder. Der Autor, Johannes Neuhauser, greift auf Video- und Tonmaterial zurück, auf private Filmaufnahmen genauso wie auf eigene Gespräche mit Harry Merl. Er hat die Biografie aus der Ich-Perspektive geschrieben, eine gute Entscheidung, schafft dies doch eine ganz besondere Unmittelbarkeit. Harry Merl - auf einem der ersten Fotos mit weißem Hemd und Trägerhose zu sehen, die lockigen Haare kaum gebändigt, der Blick ernst – wird am 11. November 1934 in Wien geboren.
Zitat: Als ich vier Jahre alt war, bekam ich von den Nazis einen weiteren Vornamen. Ich hieß dann Harry Israel Merl. Zudem bekam ich ein fettes „J“ auf die erste Seite meines Personalausweises und als Draufgabe einen gelben Judenstern.

Es ist vor allem diese kindliche Perspektive, die den ersten Teil des Buches so außergewöhnlich macht. Recht naiv ist der kleine Harry, kann viele Ereignisse nicht zuordnen, versteht die Reaktionen der Erwachsenen nicht. Fassungslos beobachtet er die fortschreitende Ausgrenzung.
Zitat: Einige unserer Nachbarn kamen einfach in unsere Wohnung, schauten sich um und nahmen wortlos unsere Möbel und fast unseren gesamten Hausrat mit… auch meinen kleinen Kindersessel.

Durch viele Zufälle bleibt die Familie in Wien. Der Vater wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, die Mutter macht die Buchhaltung für einen Nationalsozialisten, später stehen beide Eltern im Dienst der Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo, müssen verwaiste Wohnungen vertriebener Juden räumen. Harry Merl sagt über diesen Abschnitt:

Zitat: Es war eine Zeit, in der es eigentlich nur Verluste gegeben hat. Verluste von Menschen.

In einer Sammelwohnung ist kaum Platz für den Buben, geschweige denn gibt es die Möglichkeit für Unterricht. Der Vater bring Harry Hugh Loftings Buch „Dr. Dolittle“ mit.
Zitat: Immer und immer wieder las ich das Buch. Es war mein einziges. Bis heute hat Dr. Doolittle eine große Bedeutung für mich. So wie Dr. Dolittle die Tiere retten wollte, sollte ich später Menschen in schweren psychischen Krisen helfen. Dr. Dolittle war mein Lehrbuch. Das erste Lehrbuch und das beste!

Und auch von seiner ersten Liebe erzählt Harry, er ist damals acht Jahre alt. Im August 1942 ist Eva plötzlich nicht mehr da, deportiert nach Theresienstadt, später ermordet in Auschwitz.
Sorge und Trauer, Überforderung der Eltern, Abstumpfung. Ein Großteil der Familie Merl überlebt den Krieg nicht. Harry und seine Eltern verstecken sich die letzten Wochen in einem Kohlenkeller. Nach dem Krieg stürzt sich Harry ins Leben, maturiert mit Auszeichnung, liebt alles Amerikanische, vor allem den Jazz.
Zitat: Diese Musik wurde zu meinem Lebenselixier. Ich sagte mir immer wieder: Zum Jazz kann man nicht marschieren. Man kann nur tanzen – oder zuhören. Aber marschieren geht nicht!

Viel erzählt Harry Merl auch von Christl. Sie ist seine Gefährtin, Kollegin, Seelenverwandte, Mutter der gemeinsamen Söhne. Eine große Liebe.

Der zweite Teil des Buches ist ganz dem Berufsleben Harry Merls gewidmet, vom Medizinstudium über erste Erfahrungen mit Psychiatriepatienten in Mauer-Öhling bis hin zu seinen neuen Ideen und Ansätzen in der Psychotherapie.
Zitat: Das Spezifische an der Familientherapie liegt darin, dass man jeden Menschen immer im Zusammenhang mit seinen familiären Beziehungen denkt. Wenn der Mensch sich jetzt verändert, wie wird sich das auf seine Familie auswirken? Wird die Familie es zulassen? Wird es Schwierigkeiten geben? Wird die Familie davon profitieren? Das sind die Gedanken, die immer da sind. Denn das ist die Realität. Wo immer wir sind, unsere Familie ist in unserem Kopf mit dabei.
Auch Harry Merls Geschichte gäbe es nicht ohne seine Familie. Alles, was er erlebt hat, hat dorthin geführt, wo er schließlich beruflich landete. Er gibt in diesem Buch viel von sich preis. Ob im vorangestellten, sehr persönlichen Brief an die Eltern oder in den abschließenden Kapiteln, in denen von Glaube und Religion die Rede ist.

Man hat dieses Buch schnell gelesen, die Geschichte des Harry Merl bleibt jedoch lange im Gedächtnis.

Info: Johannes Neuhauser Harry Merl. Vater der Familientherapie (Verlag der Provinz, 2019)