Überleben.

Am 27. Jänner ist der Internationale Gedenktag für die Opfer des Holocaust. An diesem Tag im Jahr 1945 ist das Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit worden. Für viele war Auschwitz die letzte Station nach einer langen Reihe von anderen Lagern. In Auschwitz starben zwischen einer und eineinhalb Millionen Menschen. Nur wenige haben überlebt. Einer von ihnen ist Walter Fantl, geboren 1924, und einer der letzten lebenden Zeitzeugen. Seine berührende Lebensgeschichte erzählt der Literaturwissenschaftler und Historiker Gerhard Zeillinger im Buch Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl.

Walter Fantl wächst wohlbehütet im niederösterreichischen Bischofstetten, wenige Kilometer südwestlich von St. Pölten, auf. Die Eltern betreiben eine Gemischtwarenhandlung, sind im Ort angesehene Leute. In den ersten Kapiteln finden sich einige Fotografien der Familie Fantl: Die Eltern vor dem Geschäft, Walter in einem Spielauto, Gertrude mit ihrer Puppe. Walter und seine Schwester Gertrude unterscheiden sich nicht von den anderen Kindern.

Zitat: Auf einem Foto aus der Schulzeit sieht man Walter mit anderen Kindern und Jugendlichen beim katholischen Erntedankfest. Die Mädchen haben weiße Schürzen umgebunden und Kränze ins Haar geflochten. Walter trägt Lederhose. Mit seinen Schulfreunden spielt er im Wald Indianer oder Räuber und Gendarm.

Das alles ändert sich mit dem Einmarsch deutscher Truppen im März 1938. Denn die Familie ist die einzige jüdische im Ort. Ganz langsam, schleichend und fast unbemerkt, beginnt die Ausgrenzung.

Zitat: Erst nach und nach begreift Walter, was sich alles verändert hat. In den ersten Tagen muss er nicht zur Schule, im ganzen Land fällt der Unterricht aus. Als er dann wieder nach St. Pölten fährt, hat er ein mulmiges Gefühl. Im Zug spricht niemand mehr mit ihm und in der Klasse bleiben die wenigen jüdischen Schüler unter sich.

Die Familie wehrt sich lange gegen die Enteignung, hat aber schlussendlich keine Chance. Kaum etwas bleibt den Fantls, als sie schließlich nach Wien umziehen. Walter wird Lehrbub bei einem Schlosser, arbeitet unter der schützenden Hand der Israelitischen Kultusgemeinde. Eine in der Rückschau seltsam unbekümmerte Zeit. Im Jahr 1942 wird die Familie jedoch nach Theresienstadt deportiert. Sammelpunkt ist der Aspangbahnhof im dritten Wiener Gemeindebezirk.

Zitat: Als Walter dort ankommt, drängen sich auf dem Bahnsteig die Menschen mit ihren Koffern, Rucksäcken, viele tragen eine Bettrolle unterm Arm. In den Papieren wird später vermerkt: „Abgemeldet nach Theresienstadt“, als wären die Juden verreist oder bloß woanders hingezogen.

Zwei Jahre lebt Walter Fantl in Theresienstadt. In jenem von den Nationalsozialisten zur „Jüdischen Musterstadt“ verklärten Ghetto, in dem die schnurgeraden Straßen zunächst nur durchnummeriert sind. Die Eltern wohnen in der 7. Querstraße, Hausnummer 17.

Zitat: Ein Jahr später, wenn in Theresienstadt Straßennamen eingeführt werden, wird die Adresse Berggasse 17 lauten, und Walter wohnt von da an in der Bahnhofstraße 18. Das soll Normalität vortäuschen, aber in Theresienstadt ist nichts normal.

Immer wieder gehen Transporte von Theresienstadt in den Osten. Auschwitz wird bald zum Synonym der Angst. Auch Walter und sein Vater stehen schließlich im Herbst 1944 auf einer der Listen. Noch an der Rampe in Auschwitz werden sie getrennt. Der Vater wird kurz darauf in der Gaskammer ermordet. Walter ist jung und stark. Er meldet sich zum Arbeitsdienst, kommt ins Nebenlager Gleiwitz, das „Krepierlager“, wie es die Häftlinge nennen. Was sich dort abspielt, ist schwer zu ertragen. Wer glaubt, schon alles über den Holocaust gelesen zu haben, schon alles zu wissen über die sadistischen Aufseher und Lagerverwalter, über die grauenvollen Zustände in den Baracken, wird hier eines Besseren belehrt. Die Brutalität wird zur Normalität, der Mensch stumpft ab. Er vegetiert dahin, Überleben ist reiner Zufall.

Zitat: Bereits zum fünften Mal, seit er in Gleiwitz ist, muss er ein zusätzliches Loch in seinen Gürtel stanzen, um die Häftlingshose nicht zu verlieren.

Dieser Gürtel ist nach dem Krieg das Einzige, das Walter Fantl von seinem früheren Leben geblieben ist. Doch er hat überlebt. Seine Eltern und seine Schwester nicht. In diesem düsteren Bericht, in dem Autor Gerhard Zeillinger penibel und detailreich beschreibt, wie Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung von statten gingen, hören wir immer wieder Walter Fantl selbst sprechen. Im Text sind die, zahlreichen Interviews und Gesprächen des Autors mit Fantl entnommenen Passagen kursiv gedruckt. Es sind sehr persönliche, intime Momente, im Gegensatz zum schlicht, aber dennoch knallhart formulierten Erzähltext. Es sind schmerzhafte Einblicke in ein unfassbares Leben, die der Autor Gerhard Zeillinger hier dennoch in Worte fasst. Nüchtern erzählt, behutsam und an manchen Stellen so leise, dass es einem noch lange in den Ohren dröhnt.


Gerhard Zeillinger Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl (Verlag Kremayr & Scheriau 2018)