Flüchtiges Glück.

Else Feldmann, 1884 in Wien in eine kinderreiche jüdische Familie geboren und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, war Zeit ihres Lebens engagierte Sozialistin und Fürbitterin armer Menschen, vor allem Kinder- und Frauenthemen hat sie bearbeitet. Ihre Sozialreportagen sind – in Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus und Diskussionen über Mindestsicherung und Notstandshilfe – erschreckend aktuell. Unter dem Titel Flüchtiges Glück. Reportagen aus der Zwischenkriegszeit ist jetzt eine Auswahl von Feldmanns Texten aus den Jahren 1919 bis 1938 erschienen.

Zitat: Eine unerhört bewegte Welt da unten.

Es sind Sätze wie dieser aus dem Jahr 1922, die uns bei der Lektüre von Else Feldmanns Reportagen innehalten lassen. Treffsicher und doch lakonisch beschreibt die Autorin das, was sich vor ihren Augen abspielt.

Zitat: Es ist unheimlich, wie dieses Getriebe nie zur Ruhe kommt – nie; die Wagen nicht zu fahren aufhören, die Menschen nicht durcheinander zu eilen, und man möchte die Nacht vor dem Fenster erwarten, um endlich Ruhe eintreten zu sehen.

Aus einem Fenster beobachtet die erzählende Person die Szenerie. Nimmt schließlich ein Fernglas zur Hand, entdeckt Details, blickt in Gesichter.

Zitat: Vor der Haltestelle der Straßenbahn drängen sich die Leute, Arbeiter, Angestellte fahren heim, sie stoßen sich im Wagen: Jeder möchte sitzen; sie haben alle mißmutige, verbrauchte Gesichter, sie runzeln die Stirnen; kaum sitzen sie, schließen sie die Augen und atmen auf; sie sind müde…

Else Feldmann wächst in den ärmlichen jüdischen Vierteln des zweiten und des zwanzigsten Wiener Gemeindebezirkes auf. Als Kind geht sie in die Armenschule, besucht später kurzzeitig eine Lehrerbildungsanstalt, arbeitet schließlich in einer Fabrik, in der Eisenfedern für Korsette hergestellt werden. 1911 tritt sie erstmals als Schriftstellerin in Erscheinung. Sie schreibt Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke. Sie besucht Kinderheime, Armenhäuser, Gefängnisse und Spitäler. Erzählt von Fabriksarbeiterinnen, Prostituierten und rachitischen Kindern.

Zitat: Jede Stunde ein Fluch, jeder Tag eine Hölle.

Wieder so eine Formulierung. Schonungslos. Doch für Else Feldmann, die 1918 den Zusammenbruch der österreichischen Monarchie und die Ausrufung der 1. Republik miterlebt hat, gibt es Hoffnung. Im Sozialismus.

Zitat: Wir träumen von der Gleichheit aller Menschen, wenn der kämpfende Sozialismus der siegende wird. 

Schreibt sie im Jahr 1919. Und weiter:

Zitat: Die allgemeine Nährpflicht wird Selbstverständlichkeit, wird Gesetz geworden sein. Es wird nicht mehr denkbar sein, daß Menschen das, was sie unbedingt zum physischen Überleben haben müssen, nicht bekommen sollten.

Else Feldmann veröffentlicht vor allem in der Arbeiterzeitung. Viele der Reportagen sind in der Ich-Form geschrieben, vieles wohl autobiografisch gefärbt, und erzählerisch dicht. Else Feldmann gehört nicht zur literarischen Elite ihrer Zeit, doch der Schriftsteller Felix Salten bleibt stets ihr Fürsprecher. Und Peter Altenberg, den sie bei einem Kuraufenthalt am Semmering kennenlernt, prägt sie nachhaltig.

Zitat: Ich habe ihn durch vier Monate jeden Tag gesehen. Nie hat mich ein Mensch reicher gemacht. Durch ihn lernte ich die Bäume kennen, den Schnee, die Sonne, den Mond, die Berge, den Wald, die Wiesen, die Sträucher und Blumen.

Von Bergen, Wiesen und Blumen schreibt Else Feldmann in den nächsten Jahrzehnten nicht oft. Ihre Texte sind selten hell, meist sind sie schummrig, oft dunkel. Else Feldmann bleibt dort stehen, wo andere vorbeieilen, schaut dort hin, wo andere wegschauen. Ihre Sozialreportagen sind wichtige Zeitdokumente, sie zeigen den bitteren Alltag, legen den Finger in die Wunden der jungen Republik. Einfühlsam und unerbittlich. Hier einige Zeilen aus einer Reportage aus dem Jahr 1932. Eine Wärmestube.

Zitat: Das letzte Haus dort, wo alle Gassen und Straßen enden, nur freier Himmel. Hier hat die menschliche Gesellschaft ihr Ende. […] Es riecht nach Heizung, Lysol, feuchten und schmutzigen Kleidern, nach Verwahrlosung und Verdammnis. Betrunkene dürfen nicht hinein. Aber sonst werden die Gäste nicht allzuviel mit Verboten geplagt. Sie kennen die Ordnung, sie kennen das Programm, jeder richtet sich schweigend danach.

Else Feldmann leidet Zeit ihres Lebens materielle Not. Ab 1934 wird es für sie immer schwieriger, zu publizieren. 1938 wird sie delogiert, wechselt immer wieder den Wohnort. Die Nationalsozialisten setzen ihre Texte auf die Liste „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. 1942 wird die 58-jährige Frau in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet. Vieles, das Else Feldmann geschrieben hat, ist heute verschollen. Der letzte Roman blieb ein Fragment. Ein Leben voller Leerstellen. In einer Reportage aus dem Jahr 1925, in der sie von einer Art Beziehung zu einem jungen Mann erzählt, der schließlich stirbt, schreibt Feldmann.

Zitat: Ich aber stand da im vollen Bewußtsein, arm und leer – ein verlorener Mensch am Wege – und bin es seither geblieben.


Else Feldmann: Flüchtiges Glück. Reportagen aus der Zwischenkriegszeit (edition altelier, 2018)