Postmemory - Enkelkinder und Vergangenheitsbewältigung.

"Am Sonntag kommen oft alle zusammen, auch meine Großmutter, und dann wird durchaus einfach so, neben dem ganzen Enkelkindertrubel auch mal wieder irgendwas nachgefragt oder irgendeine Fotokiste rausgesucht." 
Julias Großmutter flüchtete mit 14 Jahren vor den Nationalsozialisten nach Großbritannien. Julias Vater ist dort geboren. In der Familie wird oft über diese Geschichte gesprochen. Daniels Vater war erstens ein anderer, als Daniel dachte und zweitens Jude, die Großeltern starben in Auschwitz. All das hat Daniel erst im Erwachsenenalter erfahren.
"Einige Zeit später ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist zu sehen, da ist ein Prototyp, der ist gelaufen, und das Serienmodell funktioniert auch ganz gut. Das hätte ich mir nicht gedacht, dass es sowas auslöst."
Sabines Großtante versorgte Jüdinnen und Juden mit Lebensmitteln, organisierte eine kleine Widerstandsgruppe. Als Kind hat Sabine die Großtante oft im Ort getroffen.
"Sie hat immer gleich Fragen gestellt, wie es einem geht und hat meistens gleich ein Geschenk hergegeben, also die hatte immer Süßigkeiten dabei. Das war ihr offensichtlich immer sehr wichtig, dass sie anderen Leuten etwas geben kann."
Friedemann hat die NS-Vergangenheit seiner Familie erforscht und diese Geschichte in ein Buch verpackt. Ein schwieriges und leidvolles Unterfangen.
"Also in Wirklichkeit muss ich mich zerlegen und neu konstruieren, das ist wahnsinnig anstrengend, da kann man ziemlich in die Krise schlittern dabei, und es ist bedrohlich, es tut weh, macht Angst."

Wie werden Familiengeschichten weitererzählt? Und wie wirkt sich die Vergangenheit auf die nachfolgenden Generationen aus? Die Soziologin Maria Pohn-Lauggas interessiert sich für diese Familiengeschichten, erforscht unter anderem die Biografien von Widerstandskämpferinnen und Exilanten.
"Mit der Theorie im Hintergrund, dass Biografien sich immer in gesellschaftlichen Strukturen ausbilden, sich reiben an diesen Strukturen. Und dass ich, wenn ich als Biografieforscherin eine Biografie analysiere, diese gesellschaftlichen Strukturen rekonstruieren kann."
Und so versucht die Wissenschaftlerin herauszufinden, wie Enkelkinder damit umgehen, wenn sie Details aus dem Leben der Großeltern erfahren. Und ob sie diese überhaupt erfahren. Oder anders formuliert - ob sie mehr erfahren als ihre Eltern, die Nachkriegskinder.
"Ja, ich denke, es hängt viel auch damit zusammen, dass die Großelterngeneration ab einem bestimmten Alter ein Bedürfnis entwickelt, mehr zu erzählen, noch etwas mitzugeben, auch noch etwas zu vermitteln, und dadurch es auch einfacher - unter Anführungszeichen - für die Enkelgeneration wird, auch mal nachzufragen."
Im Zusammenhang mit Täter- und Opferschaft während der Zeit des Nationalsozialismus verändern sich die Erzählstrukturen.
"Die zweite Generation, vor allem im Bereich der TäterInnenfamilien, hat noch relativ eingeschränkte Möglichkeiten, ihre Elterngeneration zu konfrontieren oder sich dem zuzuwenden, es ist immer eine Form von Konfrontation oder möglicherweise auch Anklage. Warum habt ihr dort mitgemacht? Das ist für die nachfolgende Generation, also für die dritte Generation, leichter in dem Sinne, dass sie nicht mehr so stark in dieser Anklage verhaftet ist. Die ist historisch weiter weg und kann sich auch dem Nichtwissen zuwenden." 
Jede und jeder trägt seine Familiengeschichte stets mit sich. Egal, ob Opferfamilie oder Täterfamilie. Umgegangen wird damit unterschiedlich.
"Ich erlebe es immer wieder in bestimmten Kontexten, wenn ich Menschen begegne, wer deklariert sich wie in Bezug auf die Vergangenheit. Ich erleb das in meiner Generation - eben auch dritte -, dass die, die aus Täter- und Täterinnenfamilien kommen, sich nicht deklarieren, also nicht über ihre Geschichte erzählen. Und jene, die aus Überlebendenfamilien kommen, diesen Teil der Geschichte immer mitdenken."

Sabines Großtante war eine Widerstandskämpferin. Bereits ab den ersten Kriegsjahren sah sie, wie Häftlinge ins Lager Mauthausen und später ins Nibelungenwerk bei Sankt Valentin gebracht wurden. Sie versteckte Lebensmittel, besorgte Medikamente. Im Herbst 1944 wurde sie verhaftet und überlebte diverse Gefängnisse und Lager. In den 1980er Jahren schrieb sie ihre Erinnerungen nieder. Sabine erfuhr nur zufällig vom Ausmaß der Hilfsaktionen ihrer Großtante, las erstmals den bewegenden Tatsachenbericht. Leider sehr spät, meint sie: "Das finde ich jetzt für mich sehr schade, dass ich nicht mehr die Gelegenheit habe, ihr konkretere Fragen zu stellen, weil das Buch ist ein Anriss, finde ich, aber da wäre doch noch viel mehr dahinter. Konkretere Geschichten zu erfahren, Erlebnisse, Gefühle, das würde mich jetzt einfach sehr interessieren."
Was in den Erinnerungen der Großtante ganz klar wird, ist, dass Glaube, Mut und Zuversicht diese Frau geprägt haben.
"Also sie hat dieses Grundvertrauen gehabt, dass sie beschützt ist. Das hat mir immer sehr gut gefallen. Also auch in den schlimmsten, furchteinflößendsten Gegebenheiten hat sie darauf vertraut, da ist jemand, der die Hand auf sie hält. Und ich glaube, das hat ihr auch immer die Kraft gegeben - das finde ich auch sehr stark von ihr -, dass sie nie das Vertrauen verlassen hat. Der eine oder andere würde sich denken, ich bin verloren und warum schaut niemand auf mich, sie hat sich aber trotzdem gedacht, nein, das passt schon alles, ich gehe meinen Weg und der wird gut für mich sein."
Gespürt hat Sabine aber schon als Kind, dass die Großtante irgendwie ein besonderer Mensch ist.
"Sie hatte immer ein Lächeln am Gesicht, das ist besonders in Erinnerung geblieben, weil sie einfach ein sehr positiver, optimistischer Mensch war. So hab ich sie wahrgenommen, also als eine sehr optimistische Frau, die äußerst großzügig war und selber sehr bescheiden gelebt hat."
Ein Gefühl, das sich später bestätigt hat, obwohl in der Familie nie viel über die Widerstandstätigkeit der Großtante gesprochen wurde. Ein wiederkehrendes Phänomen, sagt die Biografieforscherin Maria Pohn-Lauggas: "Sie hat gespürt, was da ist, und dieses Nicht-Erzählte wirkt. Und es wirkt auf eine ganz latente und auch subtile Weise. Und erst wenn die Nachkommen anfangen, sich zuzuwenden, verstehen sie bestimmte Gefühle, die sie haben oder bestimmte Handlungen, die sie setzen. Und es gibt aber, wenn man mit Nachkommen spricht, dieses Gefühl, da ist was, aber man kann es nicht benennen. Und wenn man diese Frage stellt, da ist was, dann bekommt man relativ häufig vom Umfeld die Reaktion, nein, da ist nichts."
Da ist nichts, da war nichts. Lücken in der Biografie. Das große Schweigen vor allem in Täterfamilien.

Der Filmemacher und Künstler Friedemann Derschmidt wollte irgendwann mehr wissen und erforschte die NS-Vergangenheit seiner Vorfahren. Gespürt hat er schon als Kind, dass da etwas ist, etwas Unausgesprochenes.
"Im Prinzip war das eine große, warme, sehr integrierende Familie. Oder, ist es nach wie vor, mit sehr, sehr vielen lieben Leuten. Aber irgendwas ist mir dann schon immer wieder so quergefahren in der Wahrnehmung."
Friedemann Derschmidt nennt solche Momente Bildstörungen: Momente, in denen sich Widersprüche auftun. Momente, in denen die Geschichten, die erzählt werden, nicht mehr schlüssig sind. Momente, in denen die Bilder von Familienmitgliedern plötzlich verzerrt erscheinen. Ein Beispiel: "Eines Abends hab ich mich dazugesetzt, als mein Großvater mit seinen alten Freunden gesessen ist, wollte einfach zuhören, weil das historische Interesse war da. Und dann hat er mich weggeschickt mit den Worten, du brauchst da jetzt nicht zuhören, weil ihr – gemeint war meine Generation – seids ja alle von den Amerikanern verhetzt."
Vollkommene Verwirrung beim jungen Friedemann. Kopfschütteln und Unverständnis.
"Das hat nicht gepasst zur Bewunderung meines Großvaters, der ein sehr charismatischer, sehr interessanter Mensch war, und den ich auch sehr geliebt hab, aber plötzlich kommt DAS."
Viele solcher Momente zeichneten für Friedemann Derschmidt schließlich ein neues Bild der Familie.

Das Familiengedächtnis umschreiben, Dinge richtigstellen.
"Die Biografien, die ich von Nachkommen kenne, die sich damit beschäftigen, die beschäftigen sich auf eine Art ihr Leben lang damit. Es gibt verschiedene Formen, erstens das mal Recherchieren über die Zeit, dann immer mehr in Erfahrung bringen, es gibt verschiedene Formen der Auseinandersetzung, ob das jetzt übers Schreiben ist, über Forschung selbst, über künstlerische Auseinandersetzungen," meint Maria Pohn-Lauggas. Friedemann Derschmidt suchte in seiner Familie nach verschiedenen Erzählversionen des Vergangenen, fasste vieles in seinem Buch "Sag du es deinem Kinde" zusammen.

Von der Seele geschrieben hat sich auch Ruth Wodak vieles. Sie ist ein Nachkriegskind, Tochter von jüdischen Exilanten. Der Vater war politisch aktiv, zuerst als Sozialdemokrat, dann als revolutionärer Sozialist, schließlich als Kommunist, bevor er Österreich am  13. März 1938, also einen Tag nach dem Anschluss an Deutschland verließ.
"Man hat das nicht ein für alle Mal verarbeitet, wie man das eben bei der Vergangenheit überhaupt nicht kann, sondern man kann sich immer wieder neu damit auseinandersetzen, auch mit neuem Wissen. Und es gibt immer wieder Situationen, wo man sich tatsächlich auch damit auseinandersetzen muss und immer wieder konfrontiert wird, grade in Österreich: mit neuen Vorurteilen, neuen Antisemitismen und sozusagen einer neuen Politik, die das ja wieder hervorruft."
Auch hier gab es Lücken in der Biografie, Ruth Wodak wusste lange nicht, dass sie Jüdin ist. Später litt sie sehr unter den Erzählungen der Mutter, die Demütigungen erlebte, als sie vom Chemiestudium ausgeschlossen wurde, die Universität verlassen musste und gezwungen wurde, auf Knien die Straßen zu putzen.
"Ich sehe das als großes Problem, also vor allem dieser Rucksack, den wir alle herumtragen in unterschiedlicher Form und Weise, und schwerer und etwas leichter. Das ist natürlich belastend für unsere Generation und auch nicht wegzudenken."
Das Forschungsprojekt Kinderjause, an dem Ruth Wodak gemeinsam mit einem interdisziplinären Team von Historikern, Journalistinnen, Psychiatern und Sprachwissenschaftlerinnen seit 1999 arbeitet, beschäftigt sich mit den Familiengeschichten von Widerstandskämpferinnen und Flüchtlingen. Zunächst ging es vor allem um die Generation der Nachkriegskinder, doch Ruth Wodak setzt sich auch damit auseinander, wie Enkelkinder mit Familiengeschichten umgehen.
"Ich glaube, das aktive Auseinandersetzen ist letztlich die beste Chance, die man hat, um mit welcher schwierigen Vergangenheit und Erinnerung auch immer zurechtzukommen. Also leugnen, verdrängen, nicht nachfragen, nicht informiert werden sind sicher nicht gute Rezepte."

Lange im Unklaren über seine Familie wurde Daniel gelassen. Der Mitvierziger hat erst vor wenigen Jahren etwas erfahren, das sein Leben kurzfristig auf den Kopf stellte und langfristig sein Weltbild veränderte.
"Ich bin mit einem Vater kurze Zeit aufgewachsen, von dem ich dachte, er sei mein Vater. Und es gab im Leben meiner Mutter noch einen Onkel, und diesen Onkel habe ich ungefähr fünfmal gesehen. Und erst viel, viel später hat meine Mutter irgendwann einmal offen darüber geredet und gesagt, ja, der Onkel war dein Vater."
Was tun mit dieser Information?
"Am Anfang habe ich gedacht, es beschäftigt mich überhaupt nicht, es hat keinen Einfluss auf mich, ich habe mich geweigert, mich damit auseinanderzusetzen. Also, ich habe mir gedacht, ich habe jetzt so unaufgemachtes Packerl, und das schaue ich mir jetzt einmal von außen an und habe mich aber geweigert, es aufzumachen."
Doch es lässt ihm keine Ruhe. Und so macht sich Daniel schließlich auf die Suche, findet das Grab seines leiblichen Vaters, hinterlässt dort seine Visitenkarte. Monate später meldet sich eine Frau. Ein Treffen wird vereinbart.
"Ich kannte sie natürlich nicht, das heißt, ich wusste was sie anhat, und sie wusste, was ich anhabe. Und ich bin in das Kaffeehaus rein und dann sehe ich plötzlich eine Dame, die sich schreckt, als sie mich sieht. Das war sie dann. Ich habe nachher erfahren, dass sie sich so geschreckt hat, weil ich ihrem verstorbenen Mann so ähnlich schau."
Nach und nach erfährt Daniel Details aus dem Leben des Vaters. Dass er Jude war. Dass er nach Belgien flüchtete. Dass er dort im Widerstand war. Dass bei der Rückkehr des Vaters nach Wien niemand mehr da war von der Familie. Dass Daniels Großeltern in Auschwitz umkamen. Daniel hat dann das ehemalige KZ besucht.
"Ja das ist schrecklich, man kann es sich kaum vorstellen. Da waren diese Schienen, die in dieses Lager reinführen, da mussten sie wohl angekommen sein, und dann war es wahrscheinlich auch sehr schnell vorbei. Ich weiß gar nicht, wie das abgelaufen ist in deren Fall, weil ich da keine Informationen habe. Also … also ich spüre schon Hass."
Eine überaus spezielle und heikle Situation, die Daniel in mehrfacher Weise herausfordert, sagt die Soziologin Maria Pohn-Lauggas: "Das sind auch ganz wichtige innerpsychische Prozesse, die da passieren, und es hängt, glaube ich, maßgeblich davon ab, ob man die Möglichkeit hat, sich der Vergangenheit zuzuwenden. Also ich sage das ganz bewusst, dieses Zuwenden. Damit meine ich auch, sich emotional darauf einzulassen, also auf mögliche Erfahrungen des Verlustes, auch der Kränkung. Ich kann mir vorstellen, da ist viel Kränkung dabei, irgendwann zu erfahren, da gibt es eine Familiengeschichte, die geheim gehalten worden ist. Und dass es maßgeblich davon abhängt, wie man sich dem zuwenden kann, was es mit einem macht und ob man sich selbst als Sohn des vorher verleugneten Vaters anerkennt."

Ganz anders als in Daniels Familie, in der die Mutter wesentliche Details verschwieg und wohl auch Fragen nicht viel genützt hätte, ist es bei Julia. Dort wurde und wird ganz offen über die Vergangenheit gesprochen. Die jüdische Großmutter musste gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester vor den Nationalsozialisten nach England fliehen, gründete dort eine Familie. Julia kennt diese Geschichte seit sie selbst ein Kind ist, die britische Vergangenheit schwingt noch immer ein bisschen mit.
"Auch meine Großmutter pflegt dieses Englische wie Afternoon-Tea, und es wurde auch immer gesagt - mein Vater hat halt schwarze Haare und eine helle Haut, so dieser englische Teint, - dass ich den auch irgendwie geerbt hab."
So findet sich Julia in den Vorfahren wieder. Mittlerweile hat sie selbst zwei kleine Kinder. Die Geschichte der Großmutter, die ohne ihre Eltern in einem fremden Land lebte, macht sie sehr betroffen.
"Und gerade diese Bilder: Bahnhof, kleine Kinder, die Eltern winken. Also da breche ich sofort in Tränen aus, das geht mir schon sehr nahe, und dieses Gefühl, sich zu trennen, dass meine Großmutter wirklich fünf, sechs Jahre nicht wusste, leben ihre Eltern noch, wo sind sie – und trotzdem das Gefühl zu haben, irgendwie weiterzugehen, weiterzumachen, stark zu sein. Also ich schaue mir heute manchmal meine Großmutter an und denke mir, Wahnsinn, was sie alles erlebt hat."
Heute sitzt die Großfamilie oft zusammen, Fragen werden gestellt und beantwortet. Kollektives Erinnern über drei, mittlerweile schon vier Generationen - das ist etwas doch recht Seltenes, sagt die Soziologin Maria Pohn-Lauggas;- schon allein deshalb, weil nicht mehr sehr viele  Zeitzeuginnen und Zeitzeugen am Leben sind: "Bei ihr klingt das so, als gäbe es da eine sehr starke, auch intergenerationale Auseinandersetzung. Und zwar in die eine sowie in die andere Richtung. Und vermutlich eine starke Wertschätzung der jeweiligen Erfahrungen und Zugänge."
In Julias Fall hat ihre Mutter die Geschichte der Familie ihres Mannes, der in England geboren wurde, und ihrer Schwiegermutter, die ins Exil gehen musste, aufgeschrieben.
"Das ist etwas, was häufig in Familien passiert, dass bestimmte Familienmitglieder bestimmte Aufträge haben, sich mit bestimmten Themen zu beschäftigen. Ich finde das spannend, gerade dieses Moment des Aufschreibens, dass das eine Person macht und diesen Auftrag annimmt."
"Mein Vater hat gesagt - der hat sich schon immer interessiert für Geschichte, auch für Judentum, jüdische Geschichte in Wien -, dass das durch das Nachfragen durch meine Mutter an seine Mutter noch einmal mehr in Gang gekommen ist. Ich glaube, mein Vater alleine hätte seine Mutter weniger ausgefragt", sagt Julia, während sie in dem liebevoll gestalteten Büchlein blättert.
"Ich schaue dann immer die Gesichter an und überlebe, wer wem ähnlich schaut, und erkenne gewisse Linien oder so. Oder auch meine eigenen Kinder, wem die ähnlich schauen. Das finde ich ganz interessant. Und auch die ganz alten Fotos, die sind natürlich weiter weg, mit großen Hüten und Maschen und Blumen und wie die Kinder angezogen waren oder Badekostüme auch für Männer."
Gerade die Fotografie hat eine große Bedeutung, wenn es darum geht, sich mit der Vergangenheit der eigenen Familie auseinanderzusetzen. Mit ihrer Hilfe werden Orte der Erinnerung geschaffen, sagt die Biografieforscherin Maria Pohn-Lauggas: "Das kann Erinnerungen stützen und Lücken füllen, bleibt aber noch immer sehr fragmentarisch und auch sehr imaginativ, ich stell mir dann die Person vor, obwohl ich gar nicht auf eine reale Erfahrung zurückgreifen kann."

Ruth, Julia, Daniel, Sabine, Friedemann: einmal zweite und viermal dritte Generation, fünf Familiengeschichten, dutzende Erzählungen, hunderte Erinnerungen. Die Erlebnisse der Großelterngeneration können das Leben der Jüngeren durchaus positiv beeinflussen. Sabine, die ihre widerständige Großtante zwar nicht mehr befragen kann, meint: "Ich habe auch mit verschiedenen Leuten gesprochen und denen die Geschichte erzählt. Und die meinten so, ihr (der Großtante, Anm.) wäre es am wichtigsten, wenn man einfach in ihrem Sinne handelt. Also nicht so sehr über sie spricht, dass sie so toll war, sondern einfach auch versucht, anderen Leuten etwas zu geben, auf welche Art und Weise das auch immer ist. Also vielleicht ein bisschen von ihrem Naturell bei sich zu behalten und öfter unüberlegt zu helfen."
Und Julia, deren Großmutter als junges Mädchen ohne ihre Eltern flüchten musste, zieht Parallelen zu heute, denn auch in ihrer Familie wurde ein junger Mann aus Syrien aufgenommen.
"Und meine Großmutter war so empathisch diesem jungen Mann gegenüber und hat sich extrem interessiert für die Geschichte, und da sind mir erst – manchmal ist es so, als wäre es zu nah dran vor den Augen – gewisse Parallelen bewusst geworden."
Daniel, dem ein wichtiger Teil seiner Familiengeschichte bis vor wenigen Jahren vorenthalten wurde, ist froh, dass er jetzt weiß, woher er kommt.
"Da ist plötzlich jemand, mit dem du dich vergleichen kannst, also ich habe jetzt Bilder auch von ihm, und er schaut mir ähnlich, also da gibt es Gemeinsamkeiten. Und dann hast du so irgendwie die Möglichkeit – die ich sonst nicht hatte -, mich so ein bisschen zu kalibrieren, zu justieren, und so ein bisschen zu verorten in dem Ganzen."
Seiner Mutter, die so lange geschwiegen hat, macht er keine Vorwürfe. Ganz im Gegenteil.
"Ich habe sie damit nicht konfrontiert, weil ich mir denke, sie weiß schon, dass das alles nicht optimal gelaufen ist. Und ich sehe jetzt wirklich keinen Sinn darin, sie mit Dingen zu konfrontieren, die schmerzhaft sind. Ich verstehe das. Ich treffe auch Entscheidungen, die vielleicht nicht richtig sind, und meine Mutter ist sehr jung nach Wien gekommen und war auf sich allein gestellt, und da trifft man halt andere Entscheidungen. Also da bin ich völlig befreit von irgendwelchen Vorwürfen, die ich ihr machen würde."
Ähnlich formuliert es Ruth Wodak, die sich in ihrer Forschung stets mit der Analyse von Sprache und Diskurs und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft beschäftigt.
"Ich glaube, dass jeder mit den eigenen Erinnerungen letztlich machen soll, was ihm oder ihr richtig erscheint. Es gibt auch da kein Rezept. Es wäre zu wünschen, dass man viel erfährt, es ist auch zu wünschen, dass Kinder die Möglichkeit haben nachzufragen, aber ich glaube, da kann man keine Normen setzen, und es steht uns nicht zu, denke ich, Vorwürfe zu formulieren."

Familiengeschichten setzen sich aus unzähligen Teilen zusammen: Geschichten, die erzählt werden - Begebenheiten, über die niemand spricht - Personen, die auf Fotografien zum Leben erwachen - Ereignisse, die in Dokumenten nachgezeichnet werden. Es ist viel Arbeit, sich dem zu stellen, was die Recherche ans Licht bringt. Dem Leid, der Trauer und dem Verlust in Opferfamilien, der Schuld in Täterfamilien. Unangenehmes wird beiseite geschoben und verharmlost. Friedemann Derschmidt, der die Nazi-Vergangenheit seiner Familie akribisch aufgearbeitet hat, vermeidet das Wort Schuld, verwendet eher Scham und vor allem: Verantwortung.
"Schuldhaft bin ich nur dann, wenn ich mit meiner Situation nicht adäquat umgehe. Und da mache ich mich nicht nur anderen gegenüber schuldig, ich mache mich vor allem mir selber gegenüber schuldig."
Es geht also darum, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, das eigene Ich neu zu definieren.
"Gedankengut ist nicht genetisch. Rassismus ist nicht genetisch. Das ist Quatsch. Das passiert alles über andere Kanäle, das passiert über non-verbale und verbale Kommunikation zwischen Menschen."

Kollektives Erinnern, selbstständiges Denken und Entscheiden, sich einordnen in der Familiengeschichte und verschobene Narrative zurechtrücken. Der Zweite Weltkrieg ist lange vorbei, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sterben, immer öfter sind die nachfolgenden Generationen auf Erzählungen aus zweiter Hand angewiesen. Die Soziologin und Biografieforscherin Maria Pohn-Lauggas ist überzeugt, dass es in Sachen Aufarbeitung noch viel zu tun gibt. Und zwar auf mehreren Ebenen.
"Das eine ist ganz klar die politische Ebene, also auch der Slogan Niemals Vergessen, und auch, dass die Zeit des Nationalsozialismus die Familien nach wie vor prägt. Also die Art und Weise, wie der familiale Dialog sich ausgestaltet, ob die gesamte Familienstruktur eher geschlossen ist, teilweise offen oder gespalten, hängt mit der Zuwendung und Abwendung zum Nationalsozialismus und zur Shoah zusammen. Ich würde sagen, für eine österreichische Gesellschaft ist es wesentlich, um sich selbst zu verstehen.“
Dazu muss noch vieles gefragt und auf Antworten gehofft werden. Denn auch drei Generationen reichen oft nicht aus, um gesellschaftliche Tabus zu brechen und die Lücken in Familienbiografien zu füllen.

Buchtipps:
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? - Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2016)
Friedemann Derschmid: Sag du es deinem Kinde (Löcker Verlag, 2015)
Bernd Fischerauer: Burli (Picus Verlag, 2017)
Peter Henisch: Die kleine Figur meines Vaters (dtv, 2010)
Marianne Hirsch: Family Frames (CreateSpace independent Publishing Platform, 2012)
Martin Pollak: Der Tote im Bunker - Bericht über meinen Vater (dtv, 2006)
Harald Welzer ua.: Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis (Fischer, 2002)
Ruth Wodak: Politik mit der Angst: Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse (Edition Konturen, 2016)
Ruth Wodak: Wir sind alle unschuldige Täter - Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus (Suhrkamp, 1990)
Meinrad Ziegler: Österreichisches Gedächtnis: Über Erinnern und Vergesses der NS-Vergangenheit (Studien-Verlag, 2016)
Projekt Kinderjause
Erinnern.at 
Tatsachenbericht Anna Strasser