Irene Pimentel im Europajournal.

Irene Pimentel in der TV-Doku
Der ungehorsame Konsul (Ö 2015)
Portugal, da kleine Land im äußersten Westen Europas, sorgt in den letzten Wochen immer öfter für positive Schlagzeilen. Nach sparsamen Jahren unter dem EU-Rettungsschirm wächst nun die Wirtschaft stetig, die Arbeitslosigkeit sinkt. Erst kürzlich war das Land in aller Munde, weil der Jazzsänger Salvador Sobral den Eurovisions-Songcontest für Portugal entscheiden konnte. Doch nicht alles ist eitel Wonne: Noch immer trägt das Land eine enorme Schuldenlast, viele junge gut ausgebildete Portugiesinnen und Portugiesen suchen im Ausland ihr berufliches Glück. Die Zeithistorikerin, Journalistin und Autorin Irene Pimentel ist eine der wichtigsten kritischen Stimmen des Landes, sie beobachtet nicht nur die Entwicklung in Portugal, sondern stets auch die Situation in Europa und der Welt.

Der Hörsaal im Alten AKH ist bis auf den letzten Platz gefüllt an diesem Nachmittag, viele haben sich eingefunden, um Irene Pimentel zuzuhören, die über ihr neuestes Buch O comboio de Luxemburgo - Der Zug aus Luxemburg referiert. Es geht um einen Zug voller jüdischer Flüchtlinge, denen im November 1940 an der portugiesischen Grenze die Einreise und damit die Rettung vor der NS-Verfolgung verwehrt wurde. Die Rolle Portugals im Zweiten Weltkrieg ist hierzulande kaum bekannt, obwohl an die 100.000 Menschen, darunter zum Beispiel auch Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Friedrich Torberg oder Karl Farkas, in Lissabon auf das begehrte Visum nach Übersee warteten.

Die Historikerin, die sich vor allem mit Themen aus der Zeit der Salazar Diktatur, also zwischen den 1930er Jahren und der Nelkenrevolution im Jahr 1974, beschäftigt, ist davon überzeugt, dass wir das Heute nur verstehen können, wenn wir uns mit dem Gestern auseinandersetzen: "Ich glaube, wir müssen die Situation der Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs im aktuellen Kontext sehen. Natürlich gibt es viele Unterschiede, aber es gibt auch viele ähnliche Aspekte. Wir leben in einer anderen Zeit, aber vieles heute erinnert uns an damals. Wenn wir keine Diktaturen mehr wollen, wenn wir die Demokratie schützen wollen - die ja in Gefahr ist, etwa in den USA - müssen wir uns auf die Geschichte besinnen."

Vom europäischen Sorgenkind zum Vorzeigeland - so lässt sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Portugals der letzten Jahre zusammenfassen. Im April 2011 schlüpft das hochverschuldete Land unter den Euro-Rettungsschirm, allerdings muss es sich selbst im Gegenzug einen straffen Sparkurs verordnen. Drei Jahre später steht Portugal tatsächlich wieder auf eigenen Beinen. Doch die Bevölkerung ist aufgebracht, viele Menschen leben seit Jahren unter prekären Bedingungen. Mittags essen gehen? Zu teuer, daher wird abends für den nächsten Bürotag vorgekocht. Bei Kälte die Elektroheizung anschalten? Zu teuer, darum sitzt man in der Daunenjacke auf dem Sofa. Wieder einmal ins Theater oder ins Konzert? Zu teuer, zu teuer.

Im November 2015 schließlich wird die Mitte-Rechts Koalition abgewählt, die Sozialisten - eine der beiden portugiesischen Volksparteien -  stellt mit António Costa den Premierminister, der von Kommunisten und linken Parteien unterstützt wird: "Das hat es in Portugal noch nicht gegeben. Aufgrund unserer Geschichte - wir hatten hier ja eine Diktatur und erst ab 1974 entwickelte sich eine Demokratie - waren die Sozialisten und die Kommunisten immer verfeindet. Koalitionen waren undenkbar, und auch andere Formen der Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und den Kommunisten. Und ganz und gar ungewöhnlich ist die Zusammenarbeit mit dem neuen Zusammenschluss der linken Parteien."

Viele tiefe Gräben galt es zu überwinden, doch das Land hat sich erholt, die Portugiesinnen und Portugiesen schöpfen wieder Hoffnung: "Heute sind in Portugal die Restaurants wieder voll. Während der Krise war das nicht so. Auch wenn die Menschen immer noch kaum Erspartes haben, die Dinge bewegen sich, es geht etwas weiter."

Im Vergleich zum Vorjahr ist die portugiesische Wirtschaft im ersten Quartal 2017 um 2,8 Prozent gewachsen. Internationale Investoren wenden sich dem Land wieder zu, die Exporte steigen, der Tourismus wird immer wichtiger. Erst kürzlich wurde die nordportugiesische Stadt Porto in einer Onlinebefragung zum besten europäischen Urlaubsziel für das Jahr 2017 gewählt. Alles eitel Wonne also? Leider nein, es gibt noch viele Baustellen. Der Schuldenberg muss weiter abgebaut werden, und auch wenn die Arbeitslosigkeit langsam sinkt und das Bildungsniveau steigt, suchen weiterhin viele ihr Glück im Ausland: "Und nun haben wir junge, von Portugal gut ausgebildete Menschen - denn es wurde viel in die Bildung investiert, das sehen wir heute, Menschen aus ärmeren Familien, die früher mit 14 ihre Ausbildung beendet hatten, konnten studieren und sich weiterbilden, haben Doktorate abgeschlossen - und viele von ihnen haben Portugal verlassen."

Doch eine Entwicklung in Europa, der Brexit, stellt in diesem Zusammenhang ein großes Problem dar. Geschätzt eine halbe Million Portugiesinnen und Portugiesen arbeiten in Großbritannien, vor allem im Gesundheitsbereich als Sanitäter und Krankenschwestern. Es ist unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen sie bleiben können: "Wenn diese Menschen nach Portugal zurückkehren, kann das für das britische Gesundheitssystem gravierende Auswirkungen haben, denn die meisten Krankenschwestern sind Ausländer." Ganz abgesehen davon, dass diese Menschen in ihrer Heimat Portugal derzeit wohl nur schwer einen adäquaten Job finden würden."

Und dann steht Portugal plötzlich ganz oben. Beim Eurovisions Songcontest singt sich der Jazzsänger Salvador Sobral in die Herzen der Zuhörer, plötzlich gibt es neben dem Fußballer Cristiano Ronaldo ein weiteres Aushängeschild, erzählt Irene Pimentel: "Als ich nach Wien kam, habe ich eine Frau nach dem Weg gefragt. Sie wollte wissen, woher ich komme. Aus Portugal! Ah, Salvador! Ich war verblüfft! Sie habe zwar nichts vom Text verstanden, aber diese Stimme!"

Ihr selbst würde das Lied nicht besonders gefallen, was sie auch in den Sozialen Medien offen gesagt hat. Mit dem Shitstorm, der sich in der Folge über sie ergoss, hat sie allerdings nicht gerechtet. Wem das Lied nicht gefalle, der sei kein wahrer Portugiese, wurde ihr vorgeworfen: "Mich hat der Songcontest nicht interessiert, auch meine Freunde nicht. Und plötzlich waren ganz viele ganz furchtbar begeistert von dieser Veranstaltung! Natürlich ist es schön, dass Portugal gewonnen hat, aber ich verstehe nicht, dass dieses Lied plötzlich so wichtig wurde, so besetzt von Nationalstolz: Alle sind so stolz, dass sie Portugiesen sind, wir sind die Besten. Das kann ich nicht ausstehen, denn ich bin kosmopolitisch."

Nun, es wird Gras darüber wachsen, Salvador Sobral sei der Erfolg natürlich zu gönnen, und es sei schön, wenn sich die Menschen mit Portugal beschäftigen würden, meint Irene Pimentel. Die Zuhörerinnen und Zuhörer haben an diesem Nachmittag nicht nur von einem dramatischen historischen Ereignis in Portugal erfahren, sondern sich nebenbei auch intensiv mit der aktuellen Situation des kleinen Landes am Rande Europas auseinandergesetzt: seinen Problemen, aber auch seinen Chancen.

Info: Irene Pimentel war bereits mehrfach meine Interviewpartnerin für Radio- und TV-Sendungen
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