Flut. Das wilde Leben der Gezeiten.

Wenn beim Frühstück die Wellen ans Ufer schlagen und wenige Stunden später der Strand hundert Meter breit ist – dann werden uns die Gezeiten wieder einmal so richtig bewusst. Dass das Meer ohne Unterlass hin und her schwappt, dass der Mond dafür der Hauptverantwortliche ist, dass Schifffahrt und Fischerei von Flut und Ebbe abhängig sind, das alles wissen wir aus der Schule. Doch es gibt so viel mehr Wissenswertes über die Gezeiten zu erzählen. Die Wissenschaft von den Ozeanen ist noch jung, und auch wenn mittlerweile Phänomene erklärt und Mythen entzaubert wurden – der englische Autor Hugh Aldersey-Williams hat genügend Interessantes gefunden, um über 300 Buchseiten zu füllen.

Wenn sich ein Brite zwölf Stunden lang ans Meer setzt, um Ebbe und Flut und deren Wirkung auf Umwelt, Mensch und Tier zu beobachten, dann klingt das erstmal nicht nach einem wilden Leben der Gezeiten.
Zitat: Zugegeben, es ist eine kauzige Idee, zwölf oder dreizehn Stunden lang aufs Meer zu schauen. Dem Gras beim Wachsen zuzusehen ist interessanter, werden Sie sagen. Aber ich lasse mich nicht abhalten. Ich weiß auch nicht, was mich erwartet, aber ich werde alles sorgfältig aufschreiben.
Und das tut der Autor dann auch. Beobachtet und notiert penibel alles, was ihm auffällt. Ein Gezeitenlauf in Echtzeit. Und das ist keineswegs langweilig, ganz im Gegenteil: das Wasser kräuselt sich, das Kanu dreht sich in die ablaufende Wasserrichtung, Tierchen wimmeln in den freiliegenden Algen, der Schlick erwacht.
Zitat: Möwen haben ihre Fußabdrücke hinterlassen. Einige deuten, ganz wie meine, darauf hin, dass sie ausgerutscht sind.
Sätze wie dieser sind typisch für den Autor, der sich selbst – oder den Menschen im Allgemeinen – immer wieder – und wie in diesem Fall auf selbstironische Weise - in Bezug zu jenem Naturphänomen setzt, das er in diesem Buch beschreibt.

Dies ist ein wunderbar erzähltes Sachbuch, das ein schönes Gleichgewicht findet zwischen Gelehrsamkeit und persönlichem Zugang.
Zitat: Dies ist kein Buch über das Meer. Es geht nicht um Mast und Skorbut, Walfänger und Piraten, Schiffszwieback und Rum. Niemand kämpft hier gegen Wirbelstürme und Taifune. […] Und doch ist dies ein Buch über das Meer. […] Das Meer, das wir im Urlaub aufsuchen und das wir doch kaum verstehen. Das Meer, auf dem wir uns vorsichtig bewegen und das uns auf geheimnisvolle Art und Weise körperlich und seelisch bewegt.

Für dieses Buch hat der Autor viele Bücher gelesen, die auch immer wieder zitiert werden. Es ist dies nicht nur eine Kulturgeschichte der Gezeiten sondern genauso deren Literaturgeschichte, Charles Dickens, Jules Verne oder Edgar Allan Poe tauchen auf. Doch die meiste Zeit war der Autor wohl als Feldforscher unterwegs, ist in viele Länder gereist, um möglichst unterschiedliche Facetten und Auswirkungen der Gezeiten kennenzulernen. Sie sind unberechenbar berechenbar, oft von zerstörerischer Kraft, abenteuerlich und dramatisch.
Zitat: Wir verstehen nicht, warum der schöne Sandstrand, den wir noch von früher kennen, zu einem wenig einladenden Geröllfeld geworden ist. Wir verstehen nicht, dass ein einziger Gezeitenwechsel den Ausgang einer Seeschlacht oder eines Angriffs vom Meer aus entscheidend beeinflusst hat und dass wir deshalb so leben, wie wir heute leben, und die Sprache sprechen, die wir heute sprechen. 

So machen wir uns auf zu einer Reise zum Ursprung des Lebens im Meer, erfahren allerlei spannende Details über die historische Seefahrt, verstehen schließlich, wie die Gezeiten und der Seehandel zusammenhängen, fiebern mit beim Wettrennen um den schnellsten Seeweg nach Indien. Der Five-O-clock Tea muss schließlich pünktlich und frisch duftend auf dem Tisch stehen. Wir erfahren, warum sich der Knutt – ein prinzipiell recht unauffälliger Stelzvogel – bei Flut so eigenartig verhält und wie raffiniert der kleine silbrige Fisch namens Grunion die Gezeiten nutzt. Wir wagen uns bis in Antike zurück, als Julius Cäsar vor Britannien mit den Gezeiten zu kämpfen hatte. Schauen Aristoteles und Galilei über die vor Konzentration hochgezogenen Schultern, um ihre Ideen vom Lauf der Welt zu verstehen. Und immer wieder zieht der Autor Bilanz: Warum faszinieren und beeinflussen uns die Gezeiten, dieses ständige Wechselspiel, so sehr?
Zitat: Die Metaphorik der Gezeiten stellt für unsere Gefühle ein nützliches Sicherheitsventil dar, denn wir können uns darauf verlassen, dass sie regelmäßig und zyklisch auftreten. Wenn wir niedergeschlagen sind, spendet uns das Trost, denn bald werden wir uns besser fühlen. Im Überschwang sollten wir uns umgekehrt daran erinnern, dass das Hochgefühl vorbeigehen wird. Aber die Gezeiten sind letztlich auch eine große Übergangsphase. Unser Leben besteht nicht nur aus Extremen, sondern wie die Gezeiten aus einem ständigen Auf und ab.

Flut – das wilde Leben der Gezeiten ist überwiegend ein Textbuch, die wenigen Illustrationen sind qualitativ nicht besonders hochwertig, bieten für das Auge nicht viel. Brauchen sie auch nicht, die Lust des Autors am Formulieren lässt sofort Bilder im Kopf entstehen. Diesen Spaß an der originellen Sprache hat übrigens nicht nur der Autor, sondern auch der ihm ebenbürtige Übersetzer Christophe Fricker. Allein das Inhaltsverzeichnis hat poetisches Potenzial: Auswegloses Wasser, Ufer des Unwissens, Mitfahrgelegenheiten. Ein schönes Buch, diese Kulturgeschichte der Gezeiten. Beim nächsten Urlaub am Strand sollte man vielleicht einfach einmal ein paar Stunden das Meer beobachten.

Info: Hugh Aldersey-Williams: Flut – Das wilde Leben der Gezeiten (aus dem Englischen von Christophe Fricker, Hanser 2017)