Die neue Odyssee.

Europa erlebt die größte Migrationswelle seit dem Zweiten Weltkrieg. Politik und Gesellschaft - egal welcher Ideologie - stehen vor immensen Herausforderungen, nutzen das Elend der Menschen aber auch für ihre jeweiligen Zwecke, Journalisten berichten, Fotos brennen sich in unser Gedächtnis ein. Sicherheitsfragen werden diskutiert, Integration bleibt eines der beherrschenden Schlagworte. Einen besonders detailreichen und intensiven Bericht hat nur Patrick Kingsley vorgelegt, 27-jähriger Migrationskorrespondent der linksliberalen englischen Zeitschrift „Guardian“. Er berichtet von Schleppern und Helfern, von Not und Hoffnung, von Grenzpatrouillen und illegalen Wegen. 

Es ist eine schlichte und ernüchternde Reportage, die der junge Journalist Patrick Kingsley hier vorlegt. Verzweiflung und Hoffnung, Empathie und Spannung sind dennoch stets spürbar. Viele Grenzen müssen überwunden werden - etwas, das für uns Europäer alltäglich ist, erweist sich für die Flüchtenden als unfassbar mühsam. Auch der Autor ist sich der Privilegien bewusst, wenn er seinen Protagonisten Haschem immer wieder an bestimmten Fluchtpunkten in Italien, Frankreich, Deutschland und Schweden trifft. Haschem, der in Syrien ein ganz normales Leben gelebt hat.
Zitat: Haschem ist kein sonderlich politischer Mensch. Er ist 37 Jahre alt und Beamter beim regionalen Wasserverband. Dort leitet er die Computerabteilung, und seine Arbeit besteht darin, jeden Monat die Wasserrechnungen für die Einwohner von Damaskus und Umgebung zu erstellen. Er konzentriert sich auf seine Arbeit und denkt sich ansonsten seinen Teil.
Die Geschichte des 37-jährigen Syrers durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Und steht paradigmatisch für die unzähligen Menschen, die – allein oder mitsamt ihrer Familie - ihre Heimat verlassen, um irgendwo auf der Welt ein besseres und vor allem sicheres Leben zu führen. Haschems Flucht dauert insgesamt drei Jahre und führt ihn wie Tausende andere über das Mittelmeer. 
Zitat: Die Nacht bricht herein, und die Stimmung an Bord ist gedrückt. Die See ist rau, vielleicht zu rau für die Geschwindigkeit, mit der sie jetzt fahren. Aber niemand will das Tempo zurücknehmen, damit die griechische Küstenwache sie nicht abfängt, bevor sie in italienischen Gewässern sind. Haschem ist fast zu erschöpft, um das alles mitzubekommen. Er hat stundenlang auf einem Bein gestanden, um anderen dadurch mehr Platz zum Schlafen zu verschaffen.

Patrick Kingsley hatte das Glück, bei der englischen Tageszeitung „Guardian“ als Migrationskorrespondent eingestellt zu werden, lange bevor die Flüchtlingssituation in Europa virulent wurde. Für sein Buch hat er drei Kontinente und 17 Länder bereist. Er erzählt von Einzelschicksalen, ohne das große Ganze außer Acht zu lassen. Und so geht es in diesem Buch nicht nur um die Flucht aus Syrien, sondern auch um die Flucht aus Nigeria, Eritrea und vielen anderen Staaten.
Zitat: Die Migration nach Europa ist keineswegs neu. Schon seit langem versuchen afrikanische Migranten über Marokko nach Spanien oder vom Senegal aus auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Seit Jahren sind Libyen, die Türkei und Ägypten Sprungbretter für Menschen, die sich nach Italien, Griechenland oder Bulgarien durchzuschlagen hoffen. Doch noch niemals zuvor sind sie in solch großer Zahl gekommen.

Warum machen sich diese Menschen auf eine gefährliche Reise, steigen in völlig überfüllte Boote, vertrauen das eigene Leben Schleppern an? Der Autor hört zu, beobachtet und berichtet. Er versucht – und es gelingt ihm auch meist -, die Distanz zu halten zwischen dem Beobachter und dem Freund der Männer und Frauen, die er durch seine intensiven Recherchen kennengelernt hat. Auch wenn er sich der Problematik durchaus bewusst ist: So meint er einmal, er sei sich in einem Flüchtlingslager komisch vorgekommen, denn anstatt selbst zu helfen, habe er die Helfer mit allerlei Fragen von ihrer Arbeit abgehalten. Doch es sei eben seine Aufgabe, nachzufragen. In einem Aufnahmelager in Sizilien trifft Patrick Kingsley auf Menschen, die es überlebt haben, als ihr Boot kenterte.
Zitat: Ibrahim bleibt ruhig, als sein Nachbar sich an seinem Hosenbein festhält. Er sagt, dass er den Reißverschluss geöffnet und die Hose abgestreift, sich dann das Hemd vom Leib gerissen und durch eine Masse wild zappelnder Körper einen Weg nach oben gebahnt habe, bis er sich schließlich aus dem sinkenden Schiff und an die Wasseroberfläche rettete. Er schnappt nach Luft. Sein Freund Harun ist ertrunken, ebenso wie 900 weitere Passagiere.

Doch Patrick Kingsley sucht auch jene, die die Flucht erst möglich machen, Schlepper und Schleuser, die ihm, wenn er sie nach langem Hin und Her schließlich zu einem Gespräch überredet hat, von ihrer täglichen Arbeit erzählen. Nach und nach ergibt sich ein schlüssiges Bild der Szenerie, Zusammenhänge werden verständlich und Informationen verknüpft.
Zitat: Nicht nur die Polizei drückt ein Auge zu. Dass die Schleuser ihre Touren immer am Montag unternehmen, hat damit zu tun, dass sie sich an diesem Tag an den Militärkonvoi anhängen können, der einmal in der Woche durch die Wüste fährt. Auch das scheint niemanden zu stören. „Die Armee hat uns aus der Stadt hinausgeführt“, erinnert sich ein nigerianischer Migrant, den ich später auf der Route kennenlernte. „Und die Armee hat niemanden aufgehalten.“

Dieses Buch gibt keine Antworten, doch wer sich auf die Geschichten der Menschen einlässt, wird die Beweggründe der Flüchtenden besser verstehen, wird ihnen vielleicht anders begegnen. Patrick Kingsley ist davon überzeugt, dass die europäische Flüchtlingspolitik gescheitert ist. Es sind verzweifelte Menschen, die nach Europa kommen. Männer, Frauen, Kinder - Familien ohne Perspektive. Die meisten haben keine Ahnung, was sie erwartet. Und - und auch davon ist der Autor überzeugt - es werden nicht weniger werden.

Info: Patrick Kingsley Die neue Odyssee – Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise (aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller, C.H.Beck 2016)