Aufstand in Auschwitz.

In den österreichischen Kinos ist derzeit ein Film zu sehen, der an die Grenzen geht – inhaltlich, kameratechnisch und was die Wirkung auf das Publikum angeht. In „Son of Saul“, der kürzlich den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewonnen hat, beschäftigt sich der ungarische Regisseur Laszlo Nemes mit einem bisher kaum bearbeiteten zeitgeschichtlichen Thema: Es geht es um das sogenannte „Sonderkommando“ im Konzentrationslager Ausschwitz. Also um jene Häftlinge, die von den Nazis dazu gezwungen wurden, die Mit-Gefangenen in die Gaskammern zu führen und anschließend die Leichen zu verbrennen. Zu diesem Thema haben kürzlich der israelische Historiker Gideon Greif und der Journalist Itamar Levin ein Buch vorgelegt, das um nichts weniger berührt und erschüttert. Im Mittelpunkt steht der 7. Oktober 1944, als die Mitglieder des Sonderkommandos den Aufstand probierten.

Es ist eine akribische Aufarbeitung, eine penible Rekonstruktion der Ereignisse, eine erschreckende Beschreibung der Vernichtungsmaschinerie, der Todesfabrik des NS-Regimes. Die Autoren, der Historiker Gideon Greif, der sich seit 1986 mit dem Thema auseinandersetzt, und der Journalist Itamar Levin, stellen den trocken erzählten und neutral aufgelisteten Fakten zahlreiche berührende Zitate von Menschen gegenüber, die Auschwitz überlebt haben.

Zitat: Wir machten die schwarze Arbeit des Holocaust.

Jaacov Gabai war Mitglied des Sonderkommandos. Er führte die anderen Gefangenen zu den Gaskammern, wo diese sich nackt ausziehen und all ihre persönlichen Gegenstände abgeben mussten. Sie würden ein Desinfektionsbad bekommen, wurde ihnen gesagt, danach bekämen sie ihre Kleidung wieder. Josef Sackar hatte nicht den Mut, ihnen die Wahrheit zu sagen:

Zitat: In die Augen habe ich ihnen nicht geschaut. Ich habe mich immer bemüht, ihnen nicht in die Augen zu schauen, damit sie nichts merkten. […] Alles Lügen, was man denen dort erzählte. Alles war Lüge, was wir sagten.

Nach dem Vergasen kam der schrecklichste Teil der Arbeit des Sonderkommandos, die Leichen mussten auf Schubkarren gepackt und verbrannt werden. Jakov Silberberg:

Zitat: Als die Türen geöffnet wurden, sahen wir einen großen Berg von erstickten Menschen, die miteinander verbunden waren. […] Es war schrecklich. Die Menschen waren geschwollen, schwarz, klebten aneinander. Es war schwer, sie auseinander zu reißen, um sie ins Krematorium zu bringen.

Die Tötung der Menschen sollte schnell und effektiv vorstatten gehen, ständig wurde der Ablauf optimiert, die Autoren vergleichen Auschwitz immer wieder mit einer Fabrik: Es gab Nachtschichten und Frühschichten, alles war akkurat organisiert. Die so genannten Dentisten brachen den Leichen die Goldzähne aus dem Mund, die Friseure schnitten den toten Frauen die Haare ab.
Wie haben diese Menschen das geschafft? Der Versuch einer Erklärung von Salman Gradowski:

Zitat: Man muss das Herz töten, das fühlende Herz, jeden Schmerz und jedes Gefühl verbannen. […] Man muss zum Roboter werden, der nichts sieht, nichts fühlt und nichts versteht.

Der Widerstand formierte sich langsam und an unterschiedlichen Stellen. Die Kommunikation war schwierig und immer wieder gingen Menschen verloren. Ganz wichtig - und die Autoren geben diesem Aspekt den nötigen Raum - sind die jungen Frauen, die in einer nahe gelegenen Munitionsfabrik Zwangsarbeit verrichteten. Sie schmuggelten unter Lebensgefahr Schwarzpulver ins Lager. Auch Mala Weinstein:

Zitat: Der Vorarbeiter beschwerte sich, dass ich zu viel Pulver verschwenden würde. Er wog das Schwarzpulver in Schüsseln ab, bevor er es mir gab, und wusste genau, wie viele Sprengkörper ich damit füllen musste. Ich stahl ein oder zwei Löffel aus jeder Schüssel und schüttete das Material in mein Päckchen, das ich in der Tasche meines Kleides versteckt hatte.

Und so kam es am 7. Oktober 1944 zum Aufstand. Die Häftlinge attackierten die Wachen, steckten die Krematorien in Brand, versuchten zu fliehen. 

Zitat: Maschinengewehre knatterten, Kugeln pfiffen, und einer nach dem anderen fiel, wie bei einer Hasenjagd, getroffen zu Boden. Schließlich rannte die große Masse auf den Stacheldraht zu, um dort durchzubrechen.

Filip Müller versteckte sich im Kamin des Verbrennungsofens, mischte sich am nächsten Tag unter eine andere Häftlingsgruppe und überlebte. 452 Aufständische starben auf der Flucht oder nach Verhören und Folterungen wenige Tage nach dem Aufstand. Am 10. Oktober 1944 protokollierte der Häftling Salman Lewenthal hastig die Ereignisse, vergrub die Zettel auf dem Gelände der Krematorien:

Zitat: Niemand hat das Recht, den moralischen Wert, den Mut und die Heldentat unserer Kameraden zu verringern, obwohl der Versuch gescheitert ist, der einmalig ist in der Geschichte von Auschwitz-Birkenau.

Die wenigen, die überlebt haben, lebten viele Jahre oder Jahrzehnte mit der Schuld, ihre Brüder und Schwestern in den Tod geschickt zu haben. Gedemütigt durch die perfide Taktik der Nationalsozialisten: Die Opfer sollten zu Mit-Tätern gemacht werden. Shlomo Dragon:

Zitat: Sicherlich dachte man, wir seien die Mörder, wir hätten die Morde eigenhändig ausgeführt und wir seien schuldig. […] Das ist schrecklich absurd. In Wahrheit wurden wir doch gezwungen, diese Arbeit für die Deutschen auszuführen. Wir hatten keine andere Wahl, als zu gehorchen. […] Wir waren nur ein Instrument in ihren Händen.

Die Kombination aus chronologischer, fast minutengenauer Berichterstattung der Ereignisse und schockierenden Augenzeugenberichten, die wiederholte Beschreibung der Tätigkeiten, die das Sonderkommando ausführen musste, machen es drastisch und eindringlich. Für dieses Buch braucht man eine dicke Haut und viel Zeit, um es immer wieder zur Seite zu legen, aus dem Fenster zu schauen, durchzuatmen und zu hoffen, dass die Menschheit vielleicht doch ein bisschen etwas aus der Geschichte gelernt hat.

Gideon Greif, Itamar Levin: Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen „Sonderkommandos“ am 7. Oktober 1944 (aus dem Hebräischen von Beatrice Greif, Böhlau Wien 2015)