Kontext, 30.8.2013
Brasilien und Fußball – das gehört nicht nur für die Brasilianer untrennbar zusammen. Fußball dominiert den brasilianischen Alltag, beeinflusst Politik und Medien. Kommendes Jahr wollen die Ballakrobaten wieder einmal zeigen, dass sie die besten der Welt sind: Auf der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 lasten zentnerschwer alle Hoffnungen der Brasilianer. Und wer sich jetzt noch rasch umfassend über Brasilien, seine besten Spieler oder die Vorbereitungen zum Großevent informieren möchte, der findet das alles im kürzlich erschienenen Buch Brasilien – Land des Fußballs von Martin Curi.
Ein Fußballbuch also, da werden wohl vor allem
Spielerportraits und Spielanalysen zu lesen sein. Dazu vielleicht die
Entstehungsgeschichte des Fußballs in Brasilien und Informationen zur
bevorstehenden Weltmeisterschaft. Und das ist auch so. Aber nicht ganz so wie
erwartet: In launigen Reportagen voller Lokalkolorit und unterhaltsamen
Dialogen werden etwa die wichtigsten Stationen der Seleção, der brasilianischen
Nationalmannschaft, nachgezeichnet, Sieg und Niederlage liegen nah beieinander,
wie etwa bei der WM 1950, als Brasilien als haushoher Favorit im Finale gegen
Uruguay spielte.
Zitat: In der 79. Minute nahm die Tragödie ihren Lauf.
[...] Barbosa machte das kurze Eck auf, weil er mit einem Pass in die Mitte
rechnete. Doch Gigghia (sic!) zog scharf und direkt ins rechte untere
Eck ab. Der Ball zappelte im Netz und Uruguay führte mit 2:1. Der
brasilianische Jubel brach jäh ab, stattdessen wurde das Maracanã in ein
ohrenbetäubendes Schweigen getaucht. Gigghia sagte später einmal: „Es gibt nur
drei Menschen, die das Maracanã zum Schweigen brachten: der Papst, Frank
Sinatra und ich."
Hier klingt bereits an, dass Fußball für die Brasilianer
nicht nur ein Ballsport ist, sondern ein Lebensgefühl, das in alle Bereiche
hineinschwappt - in den Alltag, in die Politik, in die Medien oder in die
Kultur: Zahlreiche Karnevalslieder besingen den Fußball, zum Beispiel dieses: Domingo
vou ao Maracanã, Am Sonntag geh` ich ins Maracanã. Und Fußball drückt die brasilianische Mentalität vielleicht
besser aus als vieles andere.
Zitat: Ein Fußballspiel ist eine hervorragende Metapher
für eine freie, gleiche und individualistische Gesellschaft, denn niemand kann
dem Ball in autoritärer Form befehlen, wohin er rollen soll. Auf dem
Fußballplatz sind alle Menschen, unabhängig von der Herkunft, Hautfarbe oder
Religion gleich. [...] Normalerweise gewinnt zum Schluss der Bessere, häufig aber
entscheiden auch Glück und Schicksal. [...] Damit sind grundsätzliche Züge des
brasilianischen Selbstverständnisses beschrieben.
Darum bleibt es in diesem Buch auch nicht bei Portraits und
Analysen. Brasilien und der Brasilianer stehen im Mittelpunkt und der Fußball
bestimmt für viele den Lebensrhythmus.
Und wer nicht im Stadion ist oder in einer der zahlreichen Bars das Spiel im
Fernsehen mitverfolgt, der hält sein kleines Transistorradio ans Ohr.
Zitat: Der Rhythmus des Sprechers ist in etwa doppelt so
schnell wie das Spiel auf dem Platz. Wenn ein Tor fällt, hört man das berühmte
langgezogene „GOOOOOOOOOOOOL“, das mehr an einen Gesang erinnert. Blumig wird
das Geschehen ausgemalt. Nicht umsonst wird ein Fußballkommentator auf
Brasilianisch Narrador, also Erzähler, genannt.
Zahlreiche Fußballzeitungen berichten täglich von den
Spielen und dem Privatleben der Stars, dazu kommen Runde Tische mit Trainern
und Experten, und jede Menge Kommentare. Der Autor Martin Curi lebt seit vielen
Jahren in Brasilien, hat mit einer anthropologischen Arbeit zum Thema
Fußballfan promoviert, er kennt sich aus. Und erzählt immer wieder recht
persönlich von seinen Reisen zu kleinen Klubs im abgelegenen Hinterland, zu
Mädchenmannschaften, die es trotz ihres Talents soviel schwerer haben als ihre
männlichen Kollegen, oder zu Fußballspielen der indigenen Bevölkerung, die
aufgrund ihrer Traditionen auch beim Autor für Erstaunen sorgen.
Zitat: Während die Xikrin unter sich kein Wort
Portugiesisch sprechen, kommen die Anweisungen des Karajá-Trainers
fast ausschließlich in der Kolonialsprache. [...]Später beobachte ich den
Trainer der Javaé, der eine kuriose Mischung aus zwei Sprachen nutzt.
Er erklärt mir, dass es in seiner Sprache keine Wörter für Ball und für Zahlen
gibt.
Politik und Fußball - auch diesen Aspekt behandelt der Autor
ausführlich. So wurden während der Diktatur unter Getúlio Vargas in den 1930er
Jahren erstmals dunkelhäutige Spieler in den oberen Ligen zugelassen, sozusagen als nationales Symbol
für die Einheit des Landes. Viele Jahre später bediente sich auch Präsident
Luis Inácio Lula da Silva des Fußballs.
Zitat: Präsident Lula beschenkte von nun an seine
Gesprächspartner stets mit einem Trikot der Seleção. Das war ein genialer
Schachzug, denn das kanariengelbe Hemd ist medienwirksam, weltweit bekannt und
beliebt, hat einen hohen Wiedererkennungswert und ist darüberhinaus ein äußerst
kostengünstiges Willkommensgeschenk. Zahlreiche Bilder zeigen Lula mit Obama,
Lula mit Ahmadinedschad oder Lula mit Chavez, wie sie fröhlich lächelnd ein
Fußballtrikot in die Kameras halten.
Und am Ende des Buches kommt Vorfreude auf: Alle nur erdenklichen Informationen zur bevorstehenden
Weltmeisterschaft werden aufgelistet, alle Stadien, alle WM-Städte, die Klubs
dieser Städte und deren größte Erfolge. Was in welchem Bundestaat auf den Tisch
kommt und welche Wörter man auf jeden Fall bis kommenden Juni auf Portugiesisch
können sollte. Neben den wichtigsten Schimpfwörtern sind das zum Beispiel: der
Fan - o torcedor, der Anpfiff - o apito inicial, der Sieg - a
vitória oder der Weltmeister - o campeão do mundo.
Martin Curi: Brasilien, Land des Fußballs (erschienen im Verlag Die Werkstatt)