Wenn Menschen – und in diesem Buch geht es fast ausschließlich um Frauen – sich oft bis zur Unkenntlichkeit schminken, dann haben sie dafür viele Gründe. Sie schlüpfen in eine andere Rolle, zeigen sich so, wie sie gerne aussehen würden, sie kaschieren Makel oder Fehler in ihrem Gesicht – sie wollen ihren eigenen Idealvorstellungen entsprechen, sie wollen sich und anderen gefallen.
Zitat: In den vergangenen 15 Jahren hat sich das Gesicht des globalen Nordens, der US-amerikanisch geprägten Welt rasant verändert. Diese Entwicklung ist nicht zu trennen von der Verbreitung des Smartphones, der wachsenden Bedeutung sozialer Medien und den Marktlogiken, die darauf aufbauen: Das Gesicht passt perfekt auf den Handybildschirm, das Selfie passt perfekt in den Hochkant-Instagram-Feed, und soziale Medien passen perfekt in das Werbekonzept der Kosmetikindustrie.
Und dann dreht es sich in diesem Buch tatsächlich fast ausschließlich um das Gesicht des globalen Nordens – wie die Autorin es formuliert. Beiträge oder Beispiele vom afrikanischen Kontinent, aus dem indischen oder ost-asiatischen Raum kommen nur sehr peripher vor.
Zunächst wird im Kapitel mit dem Titel „Masken“ von einer extremen Form der Gesichtsgestaltung erzählt – ausgehend von einer Modeperformance des Designers John Galliano, dessen Visagistin den Models Porzellanpuppengesichter verpasste. Große Augen, hohe Brauenbögen, Herzmünder und eine makellose Haut: „Sie glänzten wie polierte Androiden“ schreibt die Autorin. Ein Aufschrei ging durch die sozialen Medien – jede Influencerin, die etwas auf sich hielt, gab Tipps, wie der neue Look zu erreichen sei. Das Streben nach Schönheit macht auch vor der Menschmaschine nicht halt.
Doch zunächst ein Sprung in die Antike, zu Ovid und Sokrates – der eine äußerte sich pro der andere contra Schminken. Weiter bis in die Neuzeit, Rousseau und Kant werden zitiert, schließlich sind wir im Heute angelangt. Es geht um Konsum und Kosmetik, um Schminke und Schummeleien, um Orientierung und Inszenierung. Flott und teilweise mit Witz plaudert sich Rabea Weihser von Seite zu Seite.
Zitat: Klatsch, Handbücher und Frauenzeitschriften haben Schönheitstipps verbreitet und für Unterhaltung gesorgt. Heute gibt es dafür YouTube, TikTok oder Instagram. Die Selbstgestaltung, sogar die chirurgische, ist eine öffentliche Praxis. Wie finden wir das? Ovid schmollt schon die ganze Zeit, Kant pudert angewidert seine Zopfperücke, und Max Weber diagnostiziert eine weitere „Entzauberung der Welt“.
Der Gedanke drängt sich auf, dass der deutsche Soziologe damit wohl recht haben mag.
In weiteren Kapiteln beschäftigt sich die Autorin mit einzelnen Teilen des Gesichtes: Haut, Profil, Augen, Brauen, Lippen. Immer wieder entdeckt man bei der Lektüre interessante Details, die gut recherchiert wurden.
Doch bei all den farbigen Lidschatten und knallroten Lippenstiften ist es recht viel Schwarz-Weiß-Malerei, die Rabea Weihser hier betreibt. Frauen schminken sich für Männer, Männer geben die gesellschaftlichen Maße vor.
Zitat: Wie muss ich aussehen, um von bestimmten Menschen anerkannt zu werden und mich gleichzeitig von anderen abzugrenzen? Das Wie wird immer von der jeweiligen Bezugsgruppe definiert, und das können Kolleginnen, Chefs, Sportfreunde, Partner, Kontrahentinnen, Influencer oder Topmodels sein.
Warum nicht Chefinnen, Sportfreundinnen und Kontrahenten?
Die Autorin hat sich hier, so scheint es, sehr vieles von der Seele geschrieben, teilweise ist das etwas flapsig, etwa wenn es um eine „irrsinnig erfolgreiche“ Netflix-Serie geht, um „Tupperparty-Quatsch“ oder darum, dass irgendetwas „bekloppt“ sei. Das heftige Feministinnen-Bashing gegen Ende des Buches hätte auch nicht sein müssen.
In einem der letzten Kapitel geht es dann ums Altern. Und auch wenn Rabea Weihser hier Susan Sontag und Simone de Beauvoir zitiert, Demi Moore und Meryl Streep als positive Beispiele für einen natürlichen Umgang mit dem Alterungsprozess nennt, wird man das Gefühl nicht los, dass man dennoch alles daransetzen sollte, so lange wie möglich so gut wie möglich auszusehen. Und hier zeigt sich die Autorin recht selbstkritisch, es ist ein kurzer Moment, in dem über den Tellerrand des globalen Nordens hinausgeblickt wird. Wir sollten uns davon inspirieren lassen.
Zitat: Viele asiatische, afrikanische, indische, südamerikanische und indigene Kulturen, die in großen Familienverbünden leben, schätzen Senioren aufgrund ihrer Weisheit. Erste Anzeichen des Alters werden dort als Vorboten der Verwandlung in einen ehrwürdigen Zustand angenommen.
Es gibt sicherlich jede Menge Frauen, die sich in diesem Buch wiederfinden oder einen tatsächlichen Nutzen aus den Ausführungen der Autorin ziehen. Ob es so ein Buch in Zeiten von überbordender Selbstoptimierung und wahnwitzigen Influencerinnen tatsächlich braucht, sei dahingestellt.
Info: Rabea Weihser: Wie wir so schön wurden. Eine Biografie des Gesichts (Diogenes 2025)