Begonnen hat alles in den 1980er Jahren, mit der Graphic Novel „Maus“ von Art Spiegelman. Der Autor erzählt die Geschichte seines Vaters, eines Auschwitz-Überlebenden. Gezeichnet sind die jüdischen Menschen mit Mäuseköpfen, die Nationalsozialisten mit Katzenköpfen. Als das Buch erschien, sorgte das für hitzige Diskussionen, es sei rassistisch, wurde dem Autor vorgeworfen. Heute gilt „Maus“ als Klassiker.
Basis für die vorliegende Publikation war eine Tagung der Linzer Kunstuniversität in Zusammenarbeit mit dem Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim in Oberösterreich im Mai 2023. Dort wurde versucht, anhand von zahlreichen aktuellen Graphic Novels aufzuzeigen, wie Erinnerungsarbeit und Vermittlung heute funktionieren können.
Ein besonders bewegendes Beispiel aus Österreich ist das Buch „Insekten“ von Leopold Maurer und Regina Hofer. Es geht um einen ehemaligen Täter, den Großvater von Leopold Maurer. Es ist übrigens einer der wenigen gezeichneten Romane, die sich mit Täter-Erzählungen auseinandersetzen. Die beiden AutorInnen haben extrem verschiedene Zeichenstile, die hier in den jeweiligen Panels, also den Einzelbildern, kongenial vereint werden. In ihrem Beitrag schreibt Gudrun Heidemann, Germanistin an der Universität Lódz in Polen:
Zitat: Hofer und Maurer interviewten den Großvater des Autors und Zeichners 2004, was sich in Text und Bild niederschlägt. Es erfolgen zudem ebenso Wechsel zwischen der Interviewgegenwart, der Vergangenheit des Großvaters und der Kindheit respektive Jugend seines Enkels. Der Comic weist durch das künstlerische Duo naturgemäß zwei Zeichenstile auf, die sich deutlich unterscheiden und die Epochen verschieden zum Ausdruck bringen. Für den Nationalsozialismus wurde überwiegend ein ganz eigener Schrift- und Zeichenstil gewählt – oft Weiß auf Schwarz.
Der gezeichnete Roman vereint Aspekte aus Literatur und bildender Kunst und bietet auch die Möglichkeit, Unsagbares dazustellen. Im so genannten Rinnstein, also dem Spalt zwischen den Einzelbildern, bleibt Raum für Zeitsprünge, traumatische Ereignisse und eigene Interpretationen. Auch das Grauen und der Tod, die in diesen Geschichten stets allgegenwärtig sind, können und sollen dargestellt werden. Christine Gundermann lehrt Public History an der Universität Köln. Sie schreibt über den Einsatz von Graphic Novels und Comics:
Zitat: Die größte Herausforderung bei der Arbeit mit Comics in Gedenkstätten ist und bleibt die notwendige Medienkompetenz, die den PädagogInnen nachhaltig vermittelt werden muss, und insbesondere bei den Lernenden nicht vorausgesetzt werden kann: Wie man einen Comic „richtig liest“, wie ein Comic in Bild […], Text […] und Symbol […] funktioniert, wie Zeitverläufe entstehen, wie die einzelnen Elemente des Comics benannt und diese dementsprechend auch beschrieben werden können, wie Emotionalisierung im Comic funktioniert.
Eine der HerausgeberInnen ist Simone Loistl. Sie arbeitet im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, wo zwischen 1940 und 1944 rund 30.000 kranke, invalide oder aus anderen Gründen ausgewählte KZ-Häftlinge in der Gaskammer ermordet wurden. Simone Loistl fing an, Bücher zu sammeln, in denen Hartheim in Wort und Bild vorkommt. Interessanterweise gibt es in Spanien – woher zahlreiche Häftlinge kamen, die in Hartheim getötet wurden – eine äußerst aktive Erinnerungskultur. Im 2024 erschienenen Buch „Vier Cordobesen in der Hölle“ kommt das Schloss Hartheim umfangreich vor, schreibt Simone Loistl.
Zitat: Eineinhalb Seiten beziehungsweise acht Panels spannen den Bogen von der Ankunft der Häftlinge in einem Bus bis zu ihrem Tod. Der Verein „Stolpersteine Cordoba“ hatte sich kurz vor Finalisierung der Zeichnungen noch wegen Bildmaterial an die Dokumentationsstelle Hartheim gewandt. Durch den Austausch über die historischen Abläufe in der Tötungsanstalt Hartheim wurde beschlossen, diesem mehr Raum zu geben.
Neben vielen österreichischen Publikationen geht es in den Beiträgen aber auch um internationale Graphic Novels und Comics: Etwa das sehr berührende Portrait „Die Farben der Erinnerung“ über die Großmutter der deutschen Zeichnerin Barbara Yelin. Oder die Lebensgeschichte des aus der Serie „Raumschiff Enterprise“ in der Rolle des Mister Sulu bekannten Schauspielers George Takei. Er war als Kind im Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in Lagern für japanisch-stämmige AmerikanerInnen interniert.
Auf rund 300 Seiten finden sich Beiträge von 16 AutorInnen, ergänzt durch viele Bilder. Zwischen den Kapiteln wurden außerdem Comicseiten eingefügt, die während der Linzer Tagung entstanden und die ProtagonistInnen während ihrer Vorträge zeigen. Eine schöne Idee. Die Bildbeispiele aus besprochenen Graphic Novels sind jedoch etwas klein geraten, um die Texte in den Sprechblasen zu lesen, braucht man mitunter eine Lupe. Insgesamt dennoch ein gelungener Sammelband, der hoffentlich dabei hilft, die Kunstform der Graphic Novel aus ihrer Nische hervorzuholen und als adäquates Medium der Erinnerungsarbeit zu etablieren.
Info: Angela Koch, Florian Schwanninger, Maria Keplinger, Simone Loistl (Hg.): NS-Geschichte im Comic (Bahoe Books 2025)