Portugal.

Gestern vor 50 Jahren ist in Portugal die Diktatur beendet worden. Mit der so genannten Nelkenrevolution verabschiedete sich das Land endgültig vom autoritären Regime des Estado Novo und begab sich auf den steinigen Weg Richtung Demokratie. Und der dauert offenbar auch heute noch an, bei den letzten Wahlen vor wenigen Wochen erlitten die Sozialisten schwere Verluste, die Rechtspartei Chega, zu Deutsch "Es reicht", erhielt großen Zuspruch. Pünktlich zum Jahrestag der Revolution ist ein Buch auf Deutsch erschienen, das sich mit den Vorgängen aus ganz persönlicher Sicht des Autors Phil Mailer beschäftigt. 

Als kurz nach Mitternacht des 25. April 1974 im Radio das Lied Grandola, Villa Morena gespielt wird, schläft Phil Mailer tief und fest. Der in Irland geborene Autor arbeitet zu jener Zeit als Lehrer in Lissabon und versäumt in dieser Nacht einen wesentlichen Radiomoment. Denn das erwähnte Lied, das auf Rádio Renascença läuft, ist ein geheim vereinbartes Zeichen für den Beginn der Revolution. 

Zitat: 8.15 Uhr. Meine Nachbarin weckt mich. Mit irrem Blick steht sie im Pyjama vor mir. Ich sollte heute besser nicht zur Schule fahren, sagt sie. Alle Schulen sind geschlossen, die Armee hat die Macht übernommen, es wird geschossen, niemand soll sein Haus verlassen. […] Die spinnt, denke ich mir. Ich mache die Tür zu, stelle das Radio an und lege mich wieder ins Bett. Nichts: nur die übliche Werbung. […] Ich versuche es auf anderen Sendern. Im Staatsrundfunk läuft Marschmusik. Hat sie vielleicht doch Recht?

Ja, das hat sie. Denn in dieser Nacht hat sich die Bewegung der Streitkräfte, auf Portugiesisch Movimento das Forças Armadas, an die Macht geputscht. Was folgt sind enorme Umbrüche: Besetzungen von Industrieanlagen, Demonstrationen, Streiks. Phil Mailer, selbst politisch sehr links, berichtet begeistert von Studentenkommittees, Arbeiter:innenversammlungen oder hitzigen Diskussionen innerhalb der linken, aber auch der rechten Lager. Erschienen sind Mailers persönliche und an vielen Stellen überaus polemische Schilderungen erstmals im Jahr 1977. Im Vorwort zur nun vorliegenden deutschen Übersetzung schreibt er:

Zitat: Heute, fünfzig Jahre danach, erinnert sich außerhalb Portugals kaum noch jemand an diese Ereignisse. Nach dem Scheitern der Revolution wurde das Land zügig in die Europäische Union integriert, die ganze Episode gilt seitdem als ein Sturm im Wasserglas, der kaum Erwähnung verdient.

Zu Unrecht, meint der Autor. Denn jene unruhige Zeit zwischen dem Beginn der Nelkenrevolution am 25. April 1974 bis Ende November 1975 war tatsächlich enorm prägend für das kleine Land im äußersten Südosten Europas.

Zitat: Bei der Erstveröffentlichung des Buches gab es über mehrere Kontinente hinweg endlose Diskussionen darüber, ob man die „unmögliche Revolution“, von der im Untertitel die Rede ist, mit einem Fragezeichen versehen sollte oder nicht. So waren die Zeiten. Ich halte das Fragezeichen noch immer für richtig.

Meint Phil Mailer in der Rückschau. Damals war er live dabei, engagierte sich, war ständig unterwegs; beobachtend, diskutierend und analysierend. 

Bei all den Ereignissen jener Jahre spielen die Medien, und da vor allem das Radio, eine besondere Rolle. Nicht nur werden geheime Zeichen mittels vereinbarter Musikstücke oder Lieder gespielt, die Rundfunkstationen selbst werden immer wieder besetzt, beschossen, gesprengt und wieder in Betrieb genommen. Von zentraler Bedeutung sind der Rádio Clube Portugues, ein zuerst privater, später verstaatlichter Sender, und der im Besitz der Kirche stehende Sender Rádio Renascença, im Buch als RR abgekürzt.

Zitat: Für viele Kämpfe, die Portugal in den folgenden Wochen erfassten – Demonstrationen der SUV, der Basisorganisation im Militär, Streiks der Metall- und Bauarbeiter –, entwickelte sich der Sender zu einem wichtigen Bezugspunkt. RR war ein realer politischer Faktor, wurde mitunter aber auch mit einer starken symbolischen Bedeutung aufgeladen. 

Phil Mailers Bericht endet mit seinen Betrachtungen zu einem weiteren Putsch am 25. November 1975, also eineinhalb Jahre nach dem historischen Ereignis im April 1974. Er beobachtete damals eine „spektakuläre Gleichgültigkeit“ mit der die meisten portugiesischen Arbeiter:innen auf den neuerlichen Staatsstreich reagierten. Der Widerstand der kommunistischen Partei und anderer linker Gruppierungen sei „jämmerlich“ gewesen, so der offen politisch links orientierte Autor. 

Das Buch ist ein äußerst detailreicher Insiderbericht, teilweise zu detailreich und über weite Strecken durchaus ermüdend. Da hilft die Zeittafel am Ende des Buches zumindest ein bisschen, um den Überblick nicht zu verlieren – so viele Namen von beteiligten Politikern, sechs provisorische Regierungen innerhalb weniger Monate. Und ganz wichtig: die Erklärung der vielen Abkürzungen, die in Portugal offenbar extrem beliebt sind. Das Glossar erstreckt sich über etwas mehr als fünf Seiten. Eine spannende, aber keine leichte Lektüre, die Phil Mailer da vor 50 Jahren geschrieben hat.

Info: Phil Mailer „Portugal. Die unmögliche Revolution?“, (aus dem Englischen von Anke Fusek und Felix Kurz, Edition Nautilus 2024)