Die großen Unbekannten der Mathematik.

Mathematik – für die einen eine fantastische Welt voller Geheimnisse, für die anderen der Impuls, sofort kehrt zu machen und sich mit etwas zu beschäftigen, bei dem man zumindest ein bisschen durchblickt. Dass Mathematik für uns alle spannend sein kann, versuchen die Historikerin Kate Kitagawa und der Mathematiker Timothy Revell mit ihrem nun auf Deutsch vorliegenden Buch Die großen Unbekannten der Mathematik zu beweisen. Ob ihnen das gelingt?

Eines vorweg: Wer sich schon in der Schule vor Mathematik gegraust hat und noch heute Reißaus nimmt, wenn es um Formeln und Gleichungen geht, der sollte zu einem anderen Buch greifen. Wer ganz ohne Liebe zu Zahlenspielen, zu Theoremen und Hypothesen, zu Schlussfolgerungen und Sätzen ist, wird mit diesem Buch nicht glücklich.

Doch wer es schon immer mochte, in Fragestellungen wie das Gaußsche Fehlerintegral oder die Eulersche Identität einzutauchen, wen Gleichungen mit zahlreichen Unbekannten herausfordern und nicht vertreiben, wer in Infinitesimalrechnungen eine klare Schönheit erkennen kann – für diese Leserinnen und Leser wird das vorliegende Buch ein unendlicher Quell neuer Erkenntnisse sein. Vieles wird hier hinterfragt und neu bewertet. Im Vorwort heißt es:

Zitat: Der Fortschritt der Mathematik verläuft nicht linear. Sie hat sich vorwärts und rückwärts bewegt, ist um den Planeten gesprungen, hat sich auf abenteuerliche Tangenten begeben und ist manchmal in Sackgassen geraten. Und dadurch wird sie umso reicher. Trotz ihres Rufs, sich logisch weiterzuentwickeln, ist die Mathematik eine weitaus chaotischere Angelegenheit.

Mathematik umgibt uns und unseren Alltag. Sie ist die Grundlage für ein Gutteil des Wissens, das die Menschheit bisher hervorgebracht hat und wird auch in Zukunft von essenzieller Wichtigkeit sein. Mathematik war jahrhundertelang eine männliche Wissenschaft, in der Schule hörten wir von Pythagoras, Kepler, Newton oder Gauß. Doch es gab tatsächlich viele Mathematikerinnen, über die nun auch endlich berichtet wird. Auf Wikipedia ist eine lange Liste zu finden – von der Antike bis in die Neuzeit. Einige der Frauen tauchen auch in diesem Buch auf. Etwa die Mathematikerin und Philosophin Hypatia.

Zitat: Obwohl es in Alexandria durchaus noch andere gelehrte Frauen gegeben hat, war Hypatia die erste, von der wir wissen, dass sie sich in der Gesellschaft als renommierte weibliche Intellektuelle zu profilieren wusste. Die Menschen reisten nach Alexandria, um sie reden zu hören. Ihr Haus wurde zu einem Treffpunkt für gebildete Menschen, um über Philosophie, Mathematik und Astronomie zu debattieren und mehr zu erfahren.

Hypatia war heidnisch eigestellt – sie wurde um das Jahr 415 von einem christlichen Mob umgebracht. 

Auch andere Frauen werden vorgestellt, glücklicherweise blieb ihnen ein ähnliches Schicksal erspart. Berichtet wird über die Französin Émilie du Châtelet, einer Anhängerin Newtons und Herausgeberin eines Physik-Lehrbuches, die Italienerin Laura Bassi, die herausragende Ergebnisse auf dem Gebiet der Experimentalphysik fand, die Russin Sophie Kowalewski, ein Wunderkind und weltweit die erste Mathematikprofessorin, und die Deutsche Emmy Noether, die das Noether-Theorem entwickelte. Der Beweis dafür war – so heißt es im Buch – eine Meisterleistung.

Zitat: Man kann sie sich als eine Verallgemeinerung der Infinitesimalrechnung vorstellen, die sich nicht nur für mathematische Funktionen anwenden lässt, die mit Zahlen operieren, sondern auch mit Funktionen selbst. Noether war in der Lage, mit diesem Ansatz das Wesen physikalischer Gesetze und Symmetrien mathematisch zu erfassen, ohne auf Einzelheiten eingehen zu müssen. Sie konnte dann die Terme abändern, um ihr Theorem zu beweisen, und so die grundlegende Verbindung zwischen ihnen aufdecken.

Neben dem Fokus auf weibliche Vertreterinnen der Mathematik ist auch der gewählte, nicht-eurozentrische Blickwinkel auf diese Wissenschaft erfrischend. Die Geschichte der Mathematik beginnt in Afrika, einem Kontinent, der bisher in diesem Zusammenhang eher ausgespart wurde. Knochenfunde aus der Gegend des heutigen Uganda und der Demokratischen Republik Kongo zeigen eingeritzte Strichzeichen, die – so wird vermutet – zum Zählen und Rechnen dienten. 

 Mathematik leicht und für alle verständlich erklärt? Das bietet dieses Buch nur zum Teil. Dort wo der Text erzählend ist, lässt es sich auch als Mathemuffel wunderbar durch die Geschichte reisen. Die theoretischen Teile und Abhandlungen zu konkreten mathematischen Fragestellungen sorgen je nachdem für Kopfzerbrechen oder Gehirnjogging. So manche Fußnote lässt die Leserin und den Leser schmunzeln, zahlreiche Bilder, Diagramme und Grafiken veranschaulichen die schwierigen Sachverhalte. So ist die Mathematik: Bunter und globaler als gedacht. Aber deswegen nicht weniger kompliziert. Wer sich auf sie einlässt, wird mit richtungsweisenden Lösungen belohnt. Einen Versuch ist es wert…

Info: Kate Kitagawa und Timothy Revell Die großen Unbekannten der Mathematik, aus dem Englischen von Nastasja S. Dresler (Goldmann 2023)