Die Vermessung der Berge.

Wenn wir Berge besteigen oder Landschaften manchmal tagelang durchwandern, sind wir beeindruckt von der Schönheit der Natur, der Mächtigkeit der Felsmassive oder der unvorhersehbaren Gewalt der Natur. Doch es gibt so viel mehr zu beobachten, denn Berge erzählen von der Vergangenheit genauso wie von der Zukunft. Die französische Autorin Blandine Pluchet hat dazu ein wunderbares Buch geschrieben. Der Titel lautet: Die Vermessung der Berge – Eine Wanderung zur Entdeckung der Weltgesetze

Gleich vorweg, dies ist kein Wanderführer. Es ist eine wissenschaftlich-philosophische Annäherung an die Welt der Berge. Blandine Pluchet hat eigentlich Physik studiert, dann aber keine Doktorandinnenstelle bekommen, sie wurde schließlich Schriftstellerin. Die Physik hat sie aber stets begleitet und floss immer wieder in ihre literarischen Arbeiten ein.

Zitat: Die Welt aus der Sicht der Wissenschaft betrachten, die Kräfte beschreiben, die seit der Entstehung des Universums am Werk sind, die ehernen Gesetze vorstellen, die sie regieren: Das war die Leidenschaft, die mich antrieb. Horizonte erweitern, Blicke weiten, in den Augen anderer Funken entzünden, indem ich die Wunderwerke der Natur schilderte, das machte mir Freude.

Bei einer Wanderung mit einer Freundin nahe Garmisch-Partenkirchen, wo Blandine Pluchet gerne ihr Doktorat gemacht hätte, kommen Erinnerungen hoch, ihre Forscherseele erwacht, so formuliert es die Autorin. Und das lässt ihr keine Ruhe, erzählt sie im Vorwort des Buches:

Zitat: Ich wollte viel mehr über die Berge erfahren. Und so fasste ich einen Entschluss: Ich musste diese Berge, die mir ihre Geschichte ins Ohr raunten, näher kennenlernen. Nicht mehr als Wanderin, sondern als Physikerin. Ich bereitete mich darauf vor, den wachen Blick, den zu verfeinern ich gelernt hatte, auf sie zu richten, zu einem ganz einfachen Zweck: um die Welt zu erkunden und ihre Gesetze zu entdecken.

So macht sich Blandine Pluchet auf den Weg, durchstreift Gebirgsmassive, klettert in Schluchten, wandert über Hochebenen. Und sie trifft WissenschaftlerInnen, führt lange Gespräche über dieses oder jenes Phänomen. Viele Fragen werden gestellt und beantwortet, es geht um die Folgen des Klimawandels genauso wie um den Reiz, nachts die Unendlichkeit des Himmels in absoluter Stille zu erleben, oder auch um die versteckten Schönheiten der Berge – die Kristalle: Glimmer, Quarze und andere Glitzersteine. In einem der 14 Kapitel des Buches geht es wiederum um eine kleine Blume, den Böhmen-Gelbstern. Begleitet wird die Autorin bei diesem Ausflug von einem jungen Naturkundler.

Zitat: Der Blickwinkel, unter dem Mathieu, Physiklehrer und Hobbybotaniker, diese Landschaft betrachtet, überrascht mich. Er beschreibt mir die örtliche Geologie anhand der Flora. Beim Gang über steile Pfade deutet er auf Ginster und Stechginster, kurzwüchsige Gräser, Rosensträucher und kleine, krumme Eichen, eine Vegetation, die charakteristisch ist für saure und nährstoffarme Böden mit Granituntergrund. 

Die Autorin entdeckt in diesem Kapitel die Landschaft, in der sie schon lange lebt, völlig neu. Denn hier in der Region Poitou im Westen Frankreichs, einer Gegend mit sanften Hügeln, gab es einst ein Gebirge. Darauf weist die kleine gelbe Blume hin, die eben ganz besondere Bedingungen zum Überleben braucht und damit verrät, dass es hier einmal ganz anders ausgesehen hat. 

Zitat: Kurzum, meine Heimatregion beherbergt – zusammen mit der Bretagne, der Normandie, den Vogesen und dem Zentralmassiv – die Trümmer der einstigen Felskathedralen der Varisziden. Und es ist der Böhmen-Gelbstern, der auf ihren Überresten gedeiht und die Erinnerung an die Geschichte dieser außergewöhnlichen Berge wachhält.

Mit einer angenehmen und gut lesbaren Mischung aus Anekdoten, spannenden Bergerlebnissen und wissenschaftlicher Recherche erwandert sich die mit ihrer Begeisterung durchaus ansteckende und stets neugierige Autorin zahlreiche Gebirge. Zu erwähnen sind aber auch die stimmigen, in gedeckten Rot- und Rosatönen gehaltenen Illustrationen von Laëtitia Locteau, die Blandine Pluchets Erzählungen ergänzen. Außerdem ist dieses Buch eine haptische Freude, die sichtbare Fadenheftung am Buchrücken zeugt von liebevoller Buchbindearbeit. Ein schönes Buch, rundum gelungen, und es bestätigt den weisen Satz, dass manchmal schlicht und ergreifend nicht der Gipfelsieg, sondern der Weg das Ziel ist.

Info: Blandine Pluchet Die Vermessung der Berge. Eine Wanderung zur Entdeckung der Weltgesetze (Bergwelten 2023)