Die Erfindung des Rades.

Wie würde unsere Welt ohne das Rad aussehen? Ohne Zahnräder, ohne Windräder, ohne Räder für Autos, Fahrräder und Roboter, die für uns ferne Planeten erkunden? Eine Welt, in der nichts rollt, ist für uns schlicht nicht vorstellbar. Die Erfindung dieses so einfach wirkenden Gegenstands liegt bereits Jahrtausende zurück und hat die Menschheit wesentlich beeinflusst. Der deutsche Kulturwissenschaftler Harald Haarmann hat den derzeitigen Wissensstand mit allerlei zusätzlichen Aspekten in seinem Buch Die Erfindung des Rades zusammengefasst.

Die frühesten archäologischen Funde, die zeigen, dass das Rad zur Fortbewegung verwendet wurde, sind etwa 5000 Jahre alt. Doch vermutlich gab es nicht den einen Ort, an dem ein schlauer Erfinder entdeckte, dass sich Menschen und Waren mittels kreisrunder Scheiben leichter fortbewegen lassen.

Zitat: Wenn man von der Erfindung des Rades spricht, ist dies eine sehr pauschale Vorstellung. Es war ein vielschichtiger Prozess: Die Umsetzung der Idee des sich drehenden Rades machte vielerlei spezielle Erfindungen erforderlich, bis schließlich die angestrebte praktische Nutzung realisiert werden konnte.

Und so beginnt dieses Buch auch mit anderen Technologien, die dem Wagenrad vorangegangen sind, allen voran das Töpferrad. Hier sieht Harald Haarmann den Ursprung für die spätere Mobilisierung der Welt. Bereits im 5. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wurden solche drehbaren Arbeitsplatten verwendet. Der älteste Fund stammt aus einem Gebiet in der heutigen Ukraine. 

Zitat: Nur wenn das Werkstück auf einer drehbaren Plattform steht und der Töpfer beide Hände frei hat für die Feinarbeit, kann es gelingen, gleichmäßig dünne Wandungen für Gefäße zu formen und beim Auftragen von Motiven und Mustern des Dekors auf die Außenseiten die intendierte symmetrische Platzierung zu erreichen.

Wo schließlich das Wagenrad tatsächlich erfunden wurde, ist bisher nicht zur Gänze erforscht – und ist vielleicht auch gar nicht so wichtig. War früher vor allem Mesopotamien als Wiege des Rades gesehen worden, so tendiert der Autor eher zum eurasischen Flachland. Denn, so Harald Haarmann, in Mesopotamien sind die Böden sandig oder feucht, etwa im Schwemmland am Rande von Euphrat und Tigris.

Zitat: Der Boden war in den meisten Abschnitten der Handelsrouten gar nicht hart genug, um Waren auf Scheibenrädern zu tragen. Solche Gefährte wären bald im weichen Sand versackt, in jedem Fall, wenn sich das Eigengewicht des Wagens durch aufgepackte Lasten erhöhte.

Anders beiderseits der Donau in Richtung ihres Deltas. Hier waren die Böden eben und hart, der Handel rege, und der Wagen bot zahlreiche Vorteile, so sparte man sich zum Beispiel das ständige Be- und Entladen der Lasttiere.

Zitat: Solche Wagen brauchten auf den weiten Strecken durch die offene Graslandschaft bei der abendlichen Rast nicht entladen zu werden. Die Zugtiere wurden ausgespannt, das Kastengehäuse schützte die Waren vor Wind und Wetter. Am nächsten Tag konnten sie einfach weitergezogen werden.

Kaum war das Wagenrad erfunden, gab es kein Halten mehr. Plötzlich eröffneten sich dutzende Möglichkeiten für die Verwendung. In zwei großen Kapiteln widmet sich der Autor dem Streitwagen, der sowohl als Parade- und Repräsentationsfahrzeug wie auch als Kriegsgefährt verwendet wurde. Letzteres bot durch die erhöhte Position nicht nur Schutz vor Feinden, sondern auch einen besseren Überblick.

Zitat: Während der Kampfhandlungen blieb der Streitwagen häufig auf Abstand gegenüber den Fußsoldaten, und der Kämpfer schoss von der Fahrkanzel herab. Doch an Brennpunkten wurde der Wagen auch nah ans Kampfgeschehen herangefahren, der Kämpfer sprang ab und agierte am Boden. Der Wagenlenker war bemüht, sich nahe beim Kämpfer zu halten, damit dieser für die Weiterfahrt schnell zurück auf den Wagen springen konnte, um an anderen Brennpunkten eingesetzt zu werden.

Harald Haarmann ist nicht nur Kulturwissenschaftler, sondern auch Sprachwissenschaftler. Und so bringt er immer wieder seine Expertise aus diesem Bereich ein. Sei es, um darzulegen, welche Begriffe in frühester Zeit für Räder und Wagen verwendet wurden, sei es, um die Streitwagenmetaphorik in der Philosophie zu erklären. Etwa anhand von Platons Dialog Phaidon, in dem der Streitwagenlenker auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist.

Zitat: Die Darstellung in Platons Dialog ist sehr lebendig und realitätsnah, und im Sprachgebrauch spiegeln sich die verschiedensten Tätigkeiten und technischen Funktionen des Wagenfahrens: fahren, fliegen, sich bewegen, ankommen, die Pferde füttern, Peitsche und Stachel, Zaumzeug. Dabei wird der Streitwagen sowohl als Gefährt in der diesseitigen Welt (konkretes Fahren) als auch als Transportmittel für die transzendentale Auffahrt zum Göttlichen hin (abstraktes Fliegen) verstanden.

Diese Publikation basiert nicht auf einer spektakulär neuen Entdeckung. Sie ist ein Überblickswerk, das den derzeitigen Forschungsstand zusammenfasst und bereits Bekanntes kommentiert, das allerdings interessant und ausführlich. Viele Abbildungen zeigen die Kunstfertigkeit und das technologische Wissen längst verschwundener Kulturen, die jedoch mit einer einfachen Erfindung unser heutiges Leben auf eindrucksvolle Art und Weise geprägt haben.

Info: Harald Haarmann Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam. (C.H. Beck 2023)