Femina.

Egal, welches Geschichtsbuch wir zur Hand nehmen, unsere Geschichtsschreibung ist männlich dominiert. Herrscher, Helden, Rebellen oder Revolutionäre – Frauenfiguren wurden jahrhundertelang negiert, ihre Geschichten sind größtenteils unerzählt. Und doch gab es sie, sogar schon im Mittelalter. Die britische Kulturhistorikerin Janina Ramirez erzählt in ihrem Buch Femina die Geschichte zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert anhand zahlreicher Frauenschicksale und schafft damit eine neue, spannende Sicht auf diese vermeintlich finstere Epoche.

Farbenfroh präsentiert sich dieses Buch, der Schutzumschlag der gebundenen Ausgabe zeigt das kosmische Ei der Hildegard von Bingen mit seinen Ornamenten und Sternen, der Einband darunter glänzt golden. Neun Kapitel erzählen die erstaunlichen, bewegenden und aufregenden Geschichten von Kriegerinnen, Künstlerinnen, Spioninnen, Unternehmerinnen und Außenseiterinnen. Frauen, deren Bedeutung von männlichen Geschichtsschreibern ignoriert, deren Leistungen kleingeschrieben und deren schriftliche Zeugnisse als wertlos abgetan wurden.

Zitat: Der Titel dieses Buches – Femina – war der Hinweis, den man bei Texten an den Rand kritzelte, die, wie man wusste, von einer Frau geschrieben worden und es deshalb nicht unbedingt wert waren, aufbewahrt zu werden. Wir können nur erahnen, wie viele andere Texte als Werk einer „femina“ weggeworfen oder vernichtet wurden.

Spannend ist der Einstieg in dieses Buch: Eine Suffragette stellt sich im Jahr 1913 dem Rennpferd des Königs entgegen, um so auf die Anliegen der Frauenbewegung aufmerksam zu machen. Diese mutige Frau, sie hieß Emily Wilding Davison, war nicht nur Aktivistin, sondern auch Mediävistin, beforschte mittelalterliche Literatur und bezog aus diesem Studium viele Impulse für ihre Anliegen, das Sich-dem-reitenden-Herrscher-Entgegenstellen hat seinen Ursprung in einer Erzählung aus dem 14. Jahrhundert. Janina Ramirez ist eine großartige Erzählerin, immer wieder nimmt sie ihre Leser:innen mit auf Zeitreisen, zum Beispiel in die schwedische Stadt Birka im 10. Jahrhundert nach Christus.

Zitat: Etwa eintausend Menschen leben in dieser dynamischen Stadt, und noch viel mehr kommen und gehen, immer entlang der Handelsrouten von Moskau nach Finnland. Neben Ideen, Kulturen und Menschen erreichen Birka auch Waren vom Ende der Seidenstraße, Weinfässer, Glaswaren und arabische Silbermünzen und werden gegen skandinavischen Schmuck und Tierfelle getauscht.

Geschickt verknüpft die Autorin ihre historischen Reportagen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. In Birka etwa wurde um 1970 ein reich ausgestattetes Grabmal entdeckt, eine sitzende Person umgeben von allerlei Grabbeigaben, auch zwei Pferde finden sich in diesem Grab. Lange gingen Archäologen davon aus, dass es sich um einen Mann handelte, auch Spielsteine, die die Person auf dem Schoß hatte, weisen darauf hin. Doch vor wenigen Jahren die Sensation: DNA-Untersuchungen belegen – es handelt sich um eine Frau. Und zwar offensichtlich um eine hochgestellte und militärisch ausgebildete Frau.

Zitat: Auf dem Schoß der Kriegerin von Birka abgelegt, können die Spielsteine inmitten einer solchen Vielfalt von Waffen andeuten, dass sie als Militärstrategin galt. Ihr Grab so nahe bei der Garnison weist vielleicht darauf hin, dass sie mit taktischen Aufgaben betraut war, die gewöhnlich Männern zugeschrieben waren. Diese Frau gewährt uns einen Blick auf die Wikingerwelt, der unsere späteren Geschlechternormen infrage stellt.

Weiter geht die Reise nach Frankreich, wo uns Frauen ihre Sicht der Geschichte auf dem berühmten gestickten Teppich von Bayeux hinterlassen haben. Ausführlich wird auch Leben und Werk von Hildegard von Bingen erörtert, sie ist jene mittelalterliche Frau, die in unseren Breiten wohl am bekanntesten ist. Im letzten Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit Frauen aus niedrigen Gesellschaftsschichten, deren Lebenswege nicht weniger spannend sind als jene der Herrscherinnen oder Wissenschaftlerinnen. Der interdisziplinäre Zugang – Archäologie, Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte – zeichnet ein modernes Bild des Mittelalters. Möglich wird diese detailreiche Recherche durch den Zugang zu digitalen Dokumenten und aktuellen Forschungsergebnissen, so die Autorin.

Zitat: Durch den Zugang zu Archiven können wir die Frauen entdecken, die dort lebten, wo wir heute leben, und sie wirken auf uns weniger wie ferne Echos, sondern eher wie Nachbarinnen, die einst unsere Straßen, Gebäude und Landschaften bevölkerten. Jeden Tag spuckt das Internet neue Entdeckungen und frische Ansätze aus und hinterfragt die Art, wie wir mit der Geschichte interagieren.

Die Frauenschicksale, die die Autorin in diesem überaus lesenswerten Buch beschreibt, lassen uns seufzen, schmunzeln und staunen. Und ganz sicher gibt es noch viele andere Frauenleben zu entdecken. Janina Ramirez gibt dazu mit dem Buch Femina einen Anstoß. Denn, so schreibt sie am Ende dieses fast 500 Seiten starken Buches, jede von uns sei Teil der Geschichte. Es liege in unserer Verantwortung, darüber nachzudenken, wie sich die Welt in Zukunft an uns Frauen erinnert.

Info: Janina Ramirez Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen (Aufbau Verlag 2023)