Weltgeschichte der Flüsse.

Wien liegt an der Donau, einem der wichtigsten Flüsse Europas. Doch im städtischen Alltag ist uns die Nähe zum Wasser fast verloren gegangen – dabei hat dieser Fluss die Entwicklung der Region entscheidend mitgeprägt. Und so ist es mit vielen Flüssen auf der ganzen Welt. An ihnen wurde gesiedelt, über sie wurden Waren transportiert, um sie wurde gekämpft. Der US-amerikanische Geologe Laurence C. Smith hat sich all diese Aspekte genauer angesehen und in seinem Buch Weltgeschichte der Flüsse auf über 400 Seiten zusammengefasst. 

Flüsse verbinden Menschen und trennen Völker. Sie versorgen das Land mit Feuchtigkeit, können aber auch erschreckend zerstörerisch sein. Und doch bildeten sich die ersten Hochkulturen an Flussläufen: Euphrat und Tigris, der Nil, der Jangtze – diese Flüsse waren in der Menschheitsgeschichte von ungemeiner Wichtigkeit. Die Verwendungsweisen der Wasserstraßen  haben sich über die Jahrhunderte verändert, schreibt der Autor in der Einleitung zu seinem Buch:

Zitat: Doch ihre Bedeutung für uns dauert fort, weil sie uns fünf grundlegende Vorteile bringen: Zugang, natürliches Kapital, Land, Wohlbefinden und ein Mittel zur Machtausübung. Die Erscheinungsformen dieser Vorteile haben sich zwar geändert, aber unsere zugrunde liegenden Bedürfnisse nach ihnen sind dieselben geblieben.

Um Flüsse zu verstehen, muss zunächst geklärt werden, wie diese überhaupt entstanden sind. Der Autor saust auf wenigen Seiten durch Jahrmilliarden der Evolution, in denen sich Gebirge erhoben, Ozeane öffneten und Kontinente verschoben. Und eben auch die Flüsse begannen, die Landschaft wie ein Netz zu überziehen.

Zitat: Eine Welt ohne Flüsse wäre für uns nicht wiederzuerkennen. Unsere Kontinente wären schroff, hoch, kalt und klein. Unser Siedlungsmuster hätte sich anders entwickelt, mit verstreuten Bauernhöfen und Dörfern, die sich an Oasen und Küsten anklammern. Kriege hätten sich anders entwickelt, und die Grenzen zwischen Völkern wären unbekannt.

In neun Kapiteln, die in zahlreiche angenehm kompakte Unterkapitel unterteilt sind, beschäftigt sich der Autor mit diversen Themen, wie eben Grenzziehung und Krieg, aber auch mit Überschwemmungen, Nutzbarkeit von Wasserkraft oder dem Eingriff des Menschen in das Ökosystem. Immer noch sind Flüsse eine beliebte Möglichkeit, sich Abwassers und Mülls zu entledigen. Oder das Thema Flussregulierung: Diese schafft zwar Sicherheit für umliegende bewohnte Gebiete, verändert aber auch den Lebensraum der Tiere. Rückbau oder eine bauliche Veränderung von Staumauern können dafür sorgen, dass Fische wieder flussaufwärts zu ihren angestammten Laichplätzen schwimmen.

Ein besonders gut gelungenes Kapitel hat den Titel Der Zweck des Flusses. Der Autor erzählt auf unterhaltsame und eindrückliche Weise davon, wie sich der Fluss seinen Weg bahnt und was er auf seiner Reise so alles erledigt. Denn das abwärts fließende Wasser definiert nicht nur die Landschaft, es verändert sie auch permanent – mit Hilfe der Steine und Sedimente, die jeder Fluss vor sich herschiebt und von hier nach dort weiterträgt.

Zitat: Die Physik all dieser Prozesse ist kompliziert und hochmathematisch. Sie bleibt auch nach Jahrzehnten von Studien ein aktives Forschungsgebiet. Das ist ein Gegenstand, der einen gewissen nobelpreisgekrönten theoretischen Physiker namens Albert Einstein faszinierte, aber er entschied, dass der Gegenstand zu schwierig sei, und wandte sich stattdessen der Astronomie zu.

Es ist ein überaus vielschichtiges Buch, das Laurence Smith hier vorlegt. Schade allerdings, dass es doch sehr US-zentriert ausgefallen ist. China spielt zwar auch eine große Rolle und Europa wird in vielen Themenbereichen gestreift, dass aber die Donau mehrfach nur als ein durch Deutschland fließender Fluss genannt wird, schmerzt die österreichische Leserin dann doch ein bisschen. Dazu kommt, dass Österreich sogar in der Aufzählung jener Staaten, durch die die Donau fließt, überhaupt fehlt.  

Der deutsche Titel Weltgeschichte der Flüsse ist im Gegensatz zum Originaltitel Powerful Rivers zudem etwas unoriginell geraten. Denn es sind gerade die Macht und die Kraft der Flüsse, die den Autor auf seinen Forschungsreisen jedes Mal aufs Neue erstaunen. Seine Neugier und Verblüffung über kleinste Details und schier unglaubliche Phänomene sind auf allen Seiten dieses spannenden und informativen Buches zu spüren und laden ein, Flüsse und ihre Eigenheiten genauer zu betrachten.

Info: Laurence C. Smith Weltgeschichte der Flüsse. Wie mächtige Ströme Reiche schufen, Kulturen zerstörten und unsere Zivilisation prägen, aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder (Siedler 2022)