Briefe aus dem Orient.

Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erzählen. Und wenn eine auch noch gewitzt, schlagfertig und neugierig ist, dann sind diese Reiseberichte eine reine Lesefreude. Auch wenn sie aus dem 18. Jahrhundert stammen. Die „Briefe aus dem Orient“ – eine Neuauflage zum 260. Todestag der Autorin – der Londoner Lady Mary Wortley Montagu laden die Leserschaft ein, durch Serails und Bazare zu schlendern, köstliche orientalische Speisen zu kosten und ganz nebenbei einen unerhört intimen und sehr toleranten Blick auf die fremde Kultur zu erhaschen.

Vor rund 300 Jahren war der Orient gerade sehr „en vogue“. Man las die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, die Mode entdeckte den Turban als letzten Schrei, Kompositionen bekamen den Beisatz „alla turca“ und man liebte den Türkentrank, den Kaffee. Zu dieser Zeit, genau im Jahr 1716, macht sich Mary Wortley Montagu mit ihrem Mann, der als Botschafter nach Konstantinopel berufen wurde, von London auf den Weg gen Osten. Eine beschwerliche Reise, mit vielen Zwischenstationen, einer davon in Wien. Doch Lady Montagu ist von der Kaiserstadt enttäuscht, sie hatte sich Wien ganz anders vorgestellt, nicht so eng, nicht so schmutzig, nicht so voll.

Zitat: Um das Missverhältnis zwischen dem engen Stadtgebiet und der zahlreichen Bevölkerung, die darin wohnen will, auszugleichen, sind die Baumeister scheinbar auf das Allheilmittel verfallen, eine zweite Stadt auf die erste zu türmen. So haben denn die meisten Häuser fünf, einige sogar sechs Stockwerke.

Doch es gibt auch Positives zu berichten, so seien die Vorstädte reizend und bestünden aus prächtigen Palästen. Lady Montagu eilt von einem Empfang zum nächsten, besucht Theater und Opernaufführungen. Etwa im Garten der Favorita, einem Lustschloss mit Gartentheater – dem heutigen Theresianum im vierten Wiener Gemeindebezirk, direkt neben dem ORF Funkhaus.

Die Briefe der Lady Montagu sind überaus raffiniert. Sie formuliert ihre Korrespondenz stets dem Adressaten gemäß: Manche Briefe an den Schriftsteller Alexander Pope sind in Gedichtform geschrieben. Mit Abbé Conti, einem italienischen Geistlichen, tauscht Mary Wortley Montagu Informationen zu den Themen Religion und Architektur aus. Freundinnen beschreibt sie vor allem die orientalische Mode, die sie übrigens auch selbst trägt. Lady Montagu ist es – im Gegensatz zu vielen männlichen Reisenden, die gerade einmal die leeren Räumlichkeiten besichtigen dürfen – gestattet, den Frauenalltag im Harem zu beobachten. Oder auch den Empfang einer türkischen Braut in einem vornehmen Bad. Hingerissen berichtet sie über die schönen, nackten Frauen.

Zitat: Sie war ein wunderschönes Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt, sehr reich bekleidet und von Juwelen schimmernd, doch bald war auch sie in paradiesischem Zustand. Zwei der Mädchen füllten vergoldete Silberkrüge mit Wohlgerüchen und eröffneten den Umzug. […] Die beiden Letzten geleiteten die Braut, die mit entzückend gespielter Verschämtheit die Augen zu Boden gesenkt hielt.

Doch Mary Wortley Montagu interessiert sich nicht nur für alles Exotische, sondern auch für die Sorgen der Menschen. Besonders angetan hat es ihr die türkische Pockenimpfung, denn an dieser Krankheit sterben zu jener Zeit Zehntausende Menschen. In Adrianopel, dem heutigen Edirne, beobachtet sie das sogenannte „Einpfropfen“, also Impfen. 

Zitat: Nun erscheint die alte Frau mit einer Nussschale voll des besten Pocken-Krankheitsstoffes und fragt, welche Adern geöffnet werden sollen. Sobald man seine diesbezüglichen Wünsche geäußert hat, sticht sie die dargebotene Vene mit einer großen Nadel auf, was nicht mehr schmerzt als eine gewöhnliche Abschürfung, und führt in dieselbe so viel von dem Gift ein, wie auf dem Nadelkopf Platz hat. Hierauf verbindet sie die kleine Wunde mit einem hohlen Stückchen Rinde.

Bald lässt Lady Montagu ihre eigenen Kinder auf diese Art impfen und wird sich nach ihrer Rückkehr nach England für ein ähnliches Verfahren einsetzen.

Den Briefen sind eine Einleitung zu weiblichen Orientreisen und ein biografischer Abriss vorangestellt. Eine kurze Vorstellung der Adressatinnen und Adressaten sowie ein Text zum Osmanischen Reich vervollständigen dieses Buch. Es sind aber vor allem die Neugier und die Offenheit, mit der die Autorin durchs Leben geht, aber auch ihre Fabulierlust, ihr manchmal spöttischer, stets aber erfrischender Blick auf den Alltag im Morgenland, die dieses Buch auf so vielen Ebenen lesenswert machen.

Info: Mary Wortley Montagu Briefe aus dem Orient. Frauenleben im 18. Jahrhundert, (Promedia 2022)