Revolutions.

Wer erinnert sich an die Olympischen Sommerspiele im Juli letzten Jahres? Als eine Österreicherin das Radstraßenrennen gewann? Anna Kiesenhofer, die Mathematikerin, die mit Fleiß und Ausdauer, aber ohne großartige Unterstützung durch den Radsportverband bis an die Weltspitze fuhr. Als Frau war sie bei den meisten Sportfans gar nicht am Radar. Auch wenn Radfahrerinnen heute im Straßenbild ganz normal sind, war es doch ein langer Kampf bis auch Frauen dieses Fortbewegungsmittel für sich beanspruchen konnten. Zu groß war die Angst der Männer, Frauen könnten die neue Unabhängigkeit lieben – und unschicklich war es sowieso. In ihrem Buch Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten begibt sich die britische Autorin Hannah Ross auf Spurensuche. Herausgekommen ist eine Geschichte des Fahrrads aus weiblicher Sicht.

Wenn wir aufs Rad steigen, dann spüren wir den Fahrtwind im Gesicht. Dann fühlen wir die Kraft unserer Muskeln, die uns voranbringt. Dann vergrößern wir unseren Aktionsradius. Genießen die Freiheit. Nicht ohne Grund nannten Frauen vor über 100 Jahren das Fahrrad eine freedom machine. Autorin Hannah Ross ist selbst begeisterte Radfahrerin, kaum ein Urlaub, in dem sie die Gegend nicht vom Drahtesel aus erkundet. Schon als Kind saß sie auf dem Rad.

Zitat: An dieses erste Fahrrad kann ich mich noch gut erinnern: Neongelb mit dicken weißen Reifen; einer meiner Brüder hatte es in einem Wald in Bristol gefunden und fachmännisch wieder verkehrstauglich gemacht.

Die Geschichte der weiblichen Radrevolution startete Mitte des 19. Jahrhunderts, als Frauen begannen, die Benutzung von Fahrrädern für sich einzufordern. Als günstiges Verkehrsmittel aber auch als Freizeitgefährt. Den Männern passte das gar nicht. 

Zitat: Es ist kaum verwunderlich, dass das Radfahren in einer Zeit, in der das Patriarchat versuchte, den weiblichen Körper weitgehend zu kontrollieren, in einen Strudel aus intensiven Debatten, Pseudowissenschaften und Fehlinformationen geriet. Wer konnte schon wissen, welche moralisch verwerflichen Dinge Frauen in der freien Natur wohl anstellen würden, sobald sie sich der wachsamen Blicke ihrer Familien und Vormünder entledigt hatten?

Und das in Zeiten von Korsett und bodenlangen Röcken zuzüglich Unterröcken, die Frauen – vielleicht sogar absichtlich – davon abhielten, sich allzu viel zu bewegen. Doch plötzlich sorgten Pionierinnen in Pluderhosen, sogenannten Bloomers, die sie unter einem Kleid für bessere Beweglichkeit am Rad trugen, für Aufsehen. Dieses freedom dress repräsentierte ein unabhängiges und selbstständiges Leben.

Zitat: Im 19. Jahrhundert hatten nur Männer das Recht, Hosen anzuhaben, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne, und viele wollten, dass das auch so bleibt. Wenn sich die Presse über die „Neue Frau“ lustig machte, wurden die satirischen Beiträge oft von der Illustration einer Frau in Bloomers begleitet, entweder auf oder neben einem Fahrrad.

Eine wichtige Figur und Inspiration für das vorliegende Buch ist die französische Feministin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die nicht nur gegen ihre bürgerliche Erziehung rebellierte, sondern auch leidenschaftlich gern Rad fuhr.

Zitat: Natürlich ist es verständlich, dass eine Autorin, die über die Unfreiheit von Frauen schrieb, sich auf ihren Touren durch die Straßen von Paris am Gefühl der Schwerelosigkeit und der körperlichen Unabhängigkeit erfreute. Daneben war das Radfahren auch ein individueller Widerstand gegenüber dem Besatzungsregime, das versuchte, alle Freiheiten wo immer möglich zu beschneiden.

Hannah Ross versteht es in ihrem gelungenen und lesenswerten Buch geschickt, Historisches mit der Gegenwart zu verknüpfen. Immer wieder streut die Autorin aktuelle Berichte oder eigene Erlebnisse ein. Etwa ihr Engagement in London, wo sie geflüchteten Frauen das Radfahren beibringt. Zum Beispiel einer iranischen Frau, die seit acht Jahren darauf wartet, dauerhaft bleiben zu können.

Zitat: Zu lernen, wie man Rad fährt, gibt ihr soviel mehr als nur das körperliche Vergnügen der selbstständigen Bewegung und Geschwindigkeit und den Zugang zu einem günstigen Transportmittel; es hilft ihr, ein dringend benötigtes Gefühl von Selbstbestimmung wiederherzustellen.

In einem Zeitungsinterview meinte die Autorin, sie habe – um die Seitenzahl nicht allzu sehr auszureizen – viel weglassen müssen, es hätte noch so viel mehr Rad-Pionierinnen gegeben. Der Fokus liegt daher auf Großbritannien und Frankreich, ab und zu gibt es Abstecher in andere Länder. Der deutschsprachige Raum wird nur gestreift. Dennoch beeindruckt dieses Buch: Nicht nur weil es penibel recherchiert, spannend und mit einem Augenzwinkern geschrieben wurde. Sondern vor allem wegen der vielen bisher nicht erzählten Geschichten jener Frauen, die sich trotz schier unüberwindbarer Hindernisse nicht davon abbringen ließen, sich aufs Rad zu schwingen und für die nachkommenden Generationen in die Pedale zu treten.

Info: Hannah Ross Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten, aus dem Englischen von Daniel Beskos (Mairisch Verlag 2022)