Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz.

Manchmal können wir uns einfach nicht zurückhalten. Wenn einem als Radfahrer wieder einmal die Vorfahrt genommen wird, wenn man sich bei der Hausarbeit den Finger einzwickt, wenn sich jemand an der Kasse vordrängelt oder wenn man etwas partout nicht finden kann, obwohl man genau weiß, dass das Ding gerade noch da war. Dann fluchen wir. Oder schimpfen. Oder wünschen dem Gegenüber nichts besonders Nettes. Das Büchlein Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz der Germanistin Oksana Havryliv, basierend auf einem Vortrag im Rahmen der Wiener Vorlesungen, gibt Einblicke in die Kunst oder Unart des Schimpfens. 

Geschimpft wird auf der ganzen Welt und in allen Sprachen. Die Situationen, in denen wir zetern, jammern und uns empören, sind durchaus vergleichbar, das Vokabular ist jedoch recht unterschiedlich. Für die Wiener Vorlesungen untersuchte die Germanistin Oksana Havryliv unter anderem die verschiedenen Funktionen, die das Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz haben kann. Es reinigt, verbindet, baut Stress ab. 

Zitat: Also es ist alles situationsgebunden, es hängt davon ab, wer zu wem was natürlich in welcher Situation sagt. Und der Humor hört dort auf, wo eine Beschimpfung als eine Beleidigung wahrgenommen wird, auch wenn diese als Scherz gemeint war.

Je nach Kulturkreis macht man sich auf andere Weise Luft: mit Schimpfwörtern, Flüchen oder Verwünschungen. Manches hat ähnliche Wurzeln, vieles kommt aus dem Jiddischen, das – so Oksana Havryliv – in Sachen Verwünschungen eine außerordentliche Poetik entwickelt hat. Verwünschungen bestehen meist aus zwei Teilen, der zweite verstärkt den ersten. Zum Beispiel wird jemandem Krätze an ein bestimmtes Körperteil gewünscht und zu kurze Arme zum Kratzen.

Zitat: Und dann gibt es besonders heimtückische Verwünschungen im Jiddischen, da wird etwas Gutes gewünscht, was im zweiten Teil sich dann zum Schlechten entwickelt, wie: Hundert Jahre sollst du werden! Und nach einer Pause: Sofort.

Prinzipiell lassen sich vier Kulturen des Schimpfens erkennen, bei uns wird vor allem eine fäkal-anale Sprache verwendet, dann gibt es – etwa im Russischen - viele sexuelle Wörter, die einfließen, die Italiener und Spanier fluchen mit Wörtern aus dem sakralen Bereich und in der Türkei oder im Nahen Osten werden gerne die Verwandten, vor allem die Mutter, beleidigt. Was bei uns verstörend klingt, ist dort ein ganz normales Schimpfwort.

Zitat: Viele dieser Mutterbeleidigungen werden wörtlich ins Deutsche übersetzt und klingen als sexuelle Perversionen, „ich f-Wort deine Mutter“. Dabei erfüllen diese Ausdrücke in diesen Sprachen oft ganz andere Funktionen, sie werden de-semantisiert gebraucht, das heißt bedeutungsentleert als Ausruf in einer ärgerlichen Situation und ihre pragmatische Bedeutung ist mit dem deutschen „Scheiße“ zu vergleichen.

In der Sprachwissenschaft sind verbale Aggression und verbale Gewalt gleichwertig, im Gegensatz zur Psychologie und zur Psychoanalyse. Auch die Autorin ist der Meinung, dass es sich um zweierlei handelt, aggressive Sprechakte wenden sich meist gegen Dinge oder Situationen, verbale Gewalt ist dann im Spiel, wenn tatsächlich Personen beleidigt werden. Besonders viel geschimpft wird in den sozialen Medien. Nicht immer bleiben die Kontrahenten höflich, oft wird durch die vermeintliche Anonymität alle Zurückhaltung fallen gelassen. Politikerinnen und Politiker zum Beispiel brauchen eine dicke Haut, müssen jede Menge an negativen Emotionen der Bürgerinnen und Bürger aushalten. 

Zitat: Aber andererseits haben wir da zum Beispiel die Drohungen, oft sind das die Todesdrohungen jetzt in diesem Kontext der Corona-Pandemie, und also bei sprachlichen Handlungen handelt es sich um Handlungen und da ist die Grenzlinie unscharf. Einerseits soll die Drohung dazu dienen, die physische Aggression zu vermeiden, andererseits kann sie gerade als Provokation und Einstieg zur physischen Gewalt gelten.

Knapp 90 Seiten hat das kleinformatige in pink gehaltene Büchlein. Gut verständlich erklärt die Autorin die wichtigsten Begriffe aus dem Bereich der Sprachwissenschaft, spart nicht mit anschaulichen, teilweise recht drastischen Beispielen. Natürlich ist auch sie selbst keine Ausnahme, wenn es ums Schimpfen geht, verrät die Autorin und erzählt eine Anekdote über ihren Sohn.

Zitat: Als er drei Jahre alt war ist er mit meiner Mutter von einem Spaziergang gekommen und die Mutter konnte die Tür nicht öffnen, und dann fragt er: „Oma weißt du, was Scheiße ist?“ Und die Mutter hat gewusst, was es ist, aber sagt „Neinnein, ich weiß nicht.“ Und dann hat er gesagt: „Das muss man sagen, wenn sich die Tür nicht öffnet.“ Und meine Mutter staunt und er sagt: „Ja, die Mama sagt das immer und dann öffnet sich die Tür!“

Auch wenn wir natürlich versuchen sollten, uns nicht zu Flüchen und Beleidigungen hinreißen zu lassen, in kaum einem anderen Sprachbereich sind wir so kreativ wie beim Schimpfen. Dass ihr einmal der Forschungsgegenstand abhandenkommen könnte, muss Oksana Havryliv daher nicht befürchten. 

Info: Oksana Havryliv Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz (Picus 2022)