Im Auge des Schwarms.

Wieviele Fischarten können Sie aus dem Stand nennen und beschreiben? Haben alle Haiarten eine Rückenflosse, wie lang ist der Thunfisch und welchen Fisch erkennt man an seinen Barthaaren? Und das sind noch die einfacheren Fragen. Es gibt rund 30.000 Fischarten in unseren Meeren, von millimeterklein bis mehrere Meter lang. Die britische Meeresbiologin Helen Scales beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen Tieren, und hat vieles in ihrem neuen Buch Im Auge des Schwarms zusammengefasst.

Schon als junges Mädchen war Helen Scales vom Leben im Wasser fasziniert. Beim Urlaub in Südkalifornien beobachtet sie als 15-Jährige eine Gruppe Seeotter, die nahe der Küste pfötchenhaltend und in Seetang gewickelt vor sich hindösen. Und am nächsten Tag entdeckt sie im klaren Wasser einen jagenden Seelöwen, erzählt die Autorin in der Einleitung zu diesem Buch.
Zitat: Er jagte einem Fischschwarm hinterher, der sich sauber zweiteilte und jedes Mal, wenn der Seelöwe hindurchgeschossen war, wieder zu einem wirbelnden Etwas vereinte. Es waren wohl Heringe oder Sardinen. Ich war von diesem Räuber- und Gendarmspiel völlig fasziniert und konnte den Blick kaum mehr von den Fischen abwenden, die verfolgt, aber beinah nie gefangen wurden.
Unzählige Tauchgänge später und als studierte Meeresbiologin lädt Helen Scales zu einer faszinierenden Reise in die Unterwasserwelt ein. Fische sind ihre Leidenschaft: intelligente und erstaunliche Wesen, die die Weltmeere bevölkern. Ihrer Meinung nach bekommen diese Tiere viel zu wenig Aufmerksamkeit, dienen zuallererst als Nahrung. Dabei gibt es im Reich der Fische so viel zu entdecken.
Zitat: Manche Fische leuchten oder sind farbenprächtig, andere sind silbern oder sandfarben, und durch manche kann man hindurchsehen. Die einen flitzen, die anderen sind vollkommen reglos, einige leben ein paar Wochen, andere jahrhundertelang, die einen wohnen in Höhlen und brauchen keine Augen, andere lassen sich treiben und tun so, als wären sie Blätter.

Wie schaffen es Fische, im Schwarm nicht zusammenzustoßen? Warum hält der Mantarochen sein Gehirn warm? Was tun Fische, wenn ihre Gewässer austrocknen? Und woran denken Fische den ganzen Tag? Viele dieser Fragen werden in diesem Buch beantwortet. Zunächst geht es aber darum, was Fische überhaupt sind. Tiere ohne Beine, die im Wasser leben? Tiere ohne Fell, dafür mit Schuppen? Oder einfach alle Nicht-Säugetiere? An der Systematisierung haben sich seit Aristoteles viele Forscher die Zähne ausgebissen. Immer wieder wurden Tiergruppen ausgeschlossen, neue Gattungen und Arten hinzugefügt. In diesen äußerst detailreichen ersten beiden Kapiteln verliert man sich sehr schnell im weitverzweigten Fischstammbaum. Doch mit diesem Grundwissen ausgestattet geht es in den weiteren Kapiteln um einige außergewöhnliche Merkmale der Fische. Die Autorin erklärt, warum bei vielen Fischarten die männlichen Tiere besonders bunt sind  - nämlich, weil die Farbigkeit auf Gesundheit schließen lässt und dadurch die Chance auf kräftigen Nachwuchs besteht -, und warum gerade in den dunkelsten Tiefen der Meere die Fische leuchten - nämlich, um Beute anzulocken, Feinde zu vertreiben oder auf Brautschau zu gehen.
Zitat: Wenn man Laternenfische anleuchtet, blinken sie manchmal wie ein Glühwürmchen zurück, weil sie einen als potenziellen Paarungspartner betrachten. 

Wenn wir ins Wasser springen und abtauchen, begeben wir uns in eine eigenartig verlangsamte und dumpfe Welt. Wir müssen den Wasserwiderstand überwinden, können schlecht hören und sehen, und uns nur mittels Mimik und Gestik verständigen. Fische beherrschen die Kommunikation im Wasser naturgemäß besser.
Zitat: Die Klanglandschaft unter Wasser mag zunächst wie ein chaotisches Getöse klingen, doch dahinter steckt mehr. Vor der westaustralischen Küste zeichneten wasserdichte Mikrofone zur Morgen- und Abenddämmerung stundenlange charakteristische Gesänge auf. Zu diesen besonders aktiven Tageszeiten riefen zigtausende Fische nach einander, kämpften, flirteten, paarten sich und fraßen. Die lärmende Welt besitzt Struktur.

Auch die Überfischung und der Klimawandel werden in diesem Buch angesprochen, der Autorin geht es aber in erster Linie darum, die Welt der Fische sichtbar zu machen. Und das gelingt ihr auf knapp 330 Seiten eindrucksvoll. Wer dann noch immer nicht genug von Fischen hat, für den hat Helen Scales weiterführende Informationen und Literaturtipps parat. Und ein charmanter Bonus dieses überaus lesenswerten Buches sind die kurzen Sagen, Mythen und Märchen, die die Autorin jeweils an das Kapitelende setzt. Denn nicht auf alle Fragen gibt es Antworten, nicht alles lässt sich wissenschaftlich erklären. Gerade rund um das Meer, seine schwarze Tiefe und seine phantasieanregenden Bewohner ranken sich viele Geschichten. Und so erfährt man schließlich, weshalb die Inuit der Meeresgöttin Sedna Geschenke machen, was es mit dem „Doktor der Meere“ auf sich hat und wie die Flunder ihr Lächeln verlor.

Info: Im Auge des Schwarms. Von Fischen, dem Meer und dem Leben von Helen Scales, aus dem englischen von Christine Ammann (Folio Verlag 2020)