Charlotte Perriand.

Wenn wir an Design und Architektur der 1920er und 1930er Jahre denken, denken wir zum Beispiel an Walter Gropius und sein Bauhaus in Deutschland oder an Le Corbusier in Frankreich. Doch haben Sie auch von Charlotte Perriand gehört? Einer der wichtigsten Architektinnen dieser Zeit? Eine Frau, die – wie so viele andere – lange im Schatten ihrer männlichen Kollegen stand, obwohl sie als Gestalterin und Visionärin ihren eigenen Weg ging. Eine reich bebilderte Biografie der französischen Autorin Laure Adler – die sich immer wieder mit spannenden Frauenleben, etwa von Marguerite Duras oder Simone Weil beschäftigt hat – liegt nun auch auf Deutsch vor.

Gelb, rot, blau – dass dieses Buch in den Bauhaus-Farben gehalten ist, ist naheliegend, hatten doch die Ideen und Lehren des Bauhauses auf Architektur, Design und Kunst der Zeit einen enorm großen Einfluss. Die Arbeiten von Charlotte Perriands Lehrer Le Corbusier sind eng mit dem Bauhaus verwoben und hatten wohl auch Auswirkungen auf die Entwicklung dieser außergewöhnlichen Frau. Umgesetzt in Primärfarben: Gelb steht für das sonnige Gemüt Charlotte Perriands, rot für ihren Kampfgeist, blau für ihre Reflektiertheit.
Zitat: Ein Sonnenmädchen, wagemutig, oft tollkühn. Im Leben wie in ihren künstlerischen Entscheidungen strebt sie immer voran, besessen von der Intensität der Gegenwart, neugierig auf die Zukunft. Eine freie Frau, engagiert, begierig darauf, zu jenem Ideal beizutragen, das uns heutzutage so überholt vorkommt: dem Fortschritt.

Charlotte Perriand wurde 1903 als Tochter eines Schneiders und einer Haute-Couture-Näherin geboren. Schon früh zeigte sich ihr künstlerisches Talent, sie besuchte eine Kunstgewerbeschule, machte bald mit ihren Entwürfen von sich reden. Als sie sich entschließt, bei Le Corbusier studieren zu wollen, soll er sie zunächst mit den Worten „Wir besticken hier keine Kissen“ abgewiesen haben. Doch Charlotte Perriand bleibt hartnäckig und wird schließlich ein wichtiger Teil der Künstlergruppe. Le Corbusier jedenfalls profitiert von den Ideen der jungen Frau ebenso wie von ihrer technischen Begabung. Doch den Erfolg will er dann  nicht teilen.
Zitat: Der Patentantrag für die berühmte Chaiselongue aus dem Jahr 1928 trägt zunächst die Namen der Erfinder in der Reihenfolge ihres Anteils an der Entwicklung: Charlotte zuerst, dann Le Corbusier, dann Jeanneret. Le Corbusier ändert die Reihenfolge dann jedoch in die angeblich logischere alphabetische, setzt seinen Namen damit an die erste Stelle und den Charlottes an die letzte.
Ende der 1950er Jahre, als das Sitzmöbel neu aufgelegt wird, verschweigt er seine beiden Kollegen überhaupt. Charlotte Perriand selbst wird sich später dennoch daran erinnern, in jenen Jahren stets Teil eines Teams gewesen zu sein. Ihr ging es vor allem darum, sich selbst weiterzuentwickeln und ihre Ideen umzusetzen.
Zitat: Sie wollte in ihrem Schaffen der Harmonie, die sie in der Schönheit einer Muschelschale, dem Astwerk eines Baums oder dem Gletscher eines Gebirgsstocks fand, möglichst nahekommen. Sie wollte sich selbst möglichst treu bleiben, versuchen, sich dem Richtigen und Einfachen in der Form anzunähern.

Neben dem überaus informativen Textteil, in dem die Autorin das Leben der Künstlerin in drei großen Kapiteln unter den Titeln „Die Gestalterin“, „Die freie Frau“ und „Die Visionärin“ erzählt, lädt dieses Buch vor allem zum Betrachten der vielen Fotografien ein. Zu sehen sind von Charlotte Perriand entworfene Gebäude, Innenräume und Möbel – und immer wieder die Künstlerin selbst. Ein rundes Gesicht, akkurat frisierter Kurzhaarschnitt mit der markanten Welle auf der Stirn. Lustige Augen, ein herzlichen Lachen. Immer im Stil der Zeit gekleidet, Stoffe mit grafischen Mustern. Als junge Kunststudentin, auf der berühmten Chaiselongue, in den so sehr geliebten Bergen, bei ihren Reisen nach Japan. Dort verbringt sie die Zeit des Zweiten Weltkriegs, dort heiratet sie zum zweiten Mal, dort wird ihre Tochter geboren. Charlotte Perriand ist fasziniert von der Kraft und Alltagstauglichkeit der japanischen Kunst.
Zitat: Veränderlichkeit der Räume durch Schiebewände in einem Haus, das sich tagsüber allen seinen Möglichkeiten öffnet und nachts in sich zurückzieht; Einfachheit, die alle Schnörkel verbietet; Schönheit des Nützlichen, des Gebrauchs. Wiederverwendung, Wahrheit der Objekte.

Charlotte Perriand hat ihre eigene Formensprache entwickelt und in Architektur wie auch im Design angewendet. Ihre Bauwerke, Möbel und Gegenstände erzählen ihre Geschichte. Doch wie so viele kreative und eigenwillige Frauen, wurde Charlotte Perriand jahrzehntelang erst an zweiter Stelle genannt oder es wurde einfach auf sie vergessen. Sie starb im Jahr 1999 in hohem Alter. Bis zuletzt kämpferisch, aktiv und engagiert. Es ist an der Zeit, diese lebensfrohe und durch und durch authentische Frau wieder zu entdecken.

Info: Charlotte Perriand – Ihr Leben als moderne und unabhängige Frau von Laure Adler, aus dem Französischen von Martin Bayer (Elisabeth Sandmann Verlag, München 2020)