In Zeiten der Ansteckung.

In den vergangenen Wochen haben sich viele Autorinnen und Autoren mit dem Corona-Virus und seinen Auswirkungen auf unser Leben beschäftigt. In Tagebüchern und Newslettern, auf Blogs und in rasch produzierten Publikationen. Auch der italienische Bestsellerautor und Physiker Paolo Giordano – bekannt durch seinen im Jahr 2008 erschienenen Roman Die Einsamkeit der Primzahlen – hat das getan. In Zeiten der Ansteckung heißt das nur knapp 80 Seiten dicke Buch.

Zitat: Dies ist ein unerwartetes Buch in unerwarteten Zeiten. Seit die Ansteckung begann, hatte ich das Bedürfnis zu schreiben. Wir Autoren schreiben nicht, um Dinge zu lösen, aber wir helfen den Menschen dabei nachzudenken. Und in Zeiten der Ansteckung ist es Teil der Lösung, klar zu denken.
Ende Februar, als in Italien langsam das Ausmaß der Pandemie sichtbar wurde, begann der Autor mit einer Art Tagebuch. In teilweise extrem kurzen Kapiteln, eigentlich nur hingeworfenen Gedanken, beobachtet er, was das Virus mit uns macht. Wie sich unsere Lebenswelten ändern und wie die Krise bewältigt werden könnte.
Zitat: Was wir durchleben, geht über Identität und kulturelle Bestimmungen hinaus. Die Ausbreitung des Virus ist ein Indikator dafür, wie global unsere Welt geworden ist, wie unentwirrbar vernetzt.

Paolo Giordano liebt die Physik. Und er liebt die Mathematik. Er liebt Zahlen. Schon als Jugendlicher war die Mathematik sein Trick, die Angst in Schach zu halten, schreibt er. Ganze Nachmittage verbrachte er damit, Gleichungen zu erstellen und verzwickte Fragestellungen zu einem befriedigenden Ergebnis zu führen.
Zitat: Doch in diesem Moment stellt sich heraus, dass die Mathematik nicht bloß ein Zeitvertreib für Nerds ist, sondern ein unerlässliches Instrument, um das aktuelle Geschehen zu verstehen, Vorahnungen und Befürchtungen abzuschütteln.
Der Autor erklärt die wichtigsten Begriffe, die derzeit verwendet werden, um Ordnung in die Zahlen zu bringen. Er tut das in angenehmer Knappheit, wirkt aber niemals oberlehrerhaft. Etwa bei der Frage nach der Bedeutung der sogenannten Basisreproduktionszahl, Ro (R Null), und warum diese möglichst niedrig gehalten werden muss.
Zitat: Ro zu reduzieren ist der mathematische Sinn des Verzichts, den wir in dieser Situation leisten müssen.

Dass die Natur sich nicht linear entwickelt, haben wir alle erst lernen müssen, um die uns präsentierten Wachstumskurven in Sachen Corona-Virus zu verstehen. Mit Exponenten und Logarithmen haben die meisten bereits in der Schule abgeschlossen. Doch bei all der Theorie und den wissenschaftlichen Erklärungen lässt der Autor auch durchaus emotionale, fast zärtliche Momente zu. Etwa, wenn er erzählt, dass er als Kind weinte, weil er seinen Geburtstag aufgrund einer Hauterkrankung in Isolation verbringen musste. Oder wenn er von seinem Vater berichtet, der dem Sohn nicht nur die Begeisterung für mathematische Fragestellungen mitgegeben hat. Bei einer Fahrt in die Berge geriet der Autor mit Freunden in ein Schneechaos. Schneeketten montieren? Weiterfahren? Umkehren? Ein Anruf beim Vater.
Zitat: In aller Gemütsruhe sagte er zu mir, dass in gewissen Situationen die einzige Form von Mut der Verzicht ist. Diese Lektion in Vorsicht verdanke ich ihm, aber auch noch etwas mehr: ihr mathematisches Fundament.

Paolo Giordano versucht die Auswirkungen des Virus – bildlich gesprochen – umzurechnen, um sie greifbarer und verständlicher zu machen. Aber er beschäftigt sich auch mit der Gesamtsituation, der Globalisierung, der unentwirrbaren weltweiten Vernetzung. Für ihn sind wir nicht nur Teil der menschlichen Gemeinschaft.
Zitat: Wir sind auch die invasivste Spezies in einem zerbrechlichen und großartigen Ökosystem.
Und so sind die Appelle des Autors an seine Leserinnen und Leser zu verstehen, in Zukunft verantwortungsvoller mit Natur und Ressourcen umzugehen, und das, was die letzten Jahrzehnte für uns selbstverständlich war – Flugreisen zum Beispiel – zu überdenken. Der Autor ist überzeugt davon, dass die Ansteckung nur ein Symptom ist. Die Infektion liege in der Ökologie.
Es ist erschreckend, wie sehr sich die Zahlen in der kurzen Zeit, in der dieses Buch entstanden ist, verändert haben. Als der Autor mit seinen Überlegungen begann, stand die Welt bei 85.000 Ansteckungen und rund 3.000 Toten. Nun sind es bereits fast eineinhalb Millionen Ansteckungen und wohl bald 80.000 Tote.
Zitat: Was wir in Zeiten der Ansteckung tun oder lassen, betrifft nicht nur uns allein. Das will ich nicht vergessen, auch wenn alles vorbei ist.

Wie meinte der Autor zu Beginn des Buches? Autoren helfen den Menschen beim Nachdenken. Es tut aber auch gut, einem gescheiten Menschen beim Denken zuzuhören.

Info:
In Zeiten der Ansteckung von Paolo Giordano, aus dem Italienischen von Barbara Kleiner (Rowohlt Taschenbuch Verlag 2020)