Kontext, 11.10.2013
Brasilien ist heuer Gastland der Frankfurter Buchmesse. Zahlreiche Bücher sind aus diesem Anlass ins Deutsche übersetzt worden, Brasilien präsentiert sich als Land voller Stimmen. Doch in Brasilien selbst werden diese Stimmen kaum gehört, noch immer ist die Zahl der Analphabeten groß, der Kreis der Leser von Literatur ist überschaubar. Denn viel lieber als lesen, schauen die Brasilianer fern. Und zwar Telenovelas. Der brasilianische Sender TV Globo und der mexikanische Sender Televisa sind die weltweit wichtigsten Novela-Produzenten. Jens Hildebrandt hat die beiden Modelle verglichen, in seinem Buch „Ganz Brasilien glotzt Globo“.
Telenovelazeit in
Brasilien, die Familie kommt zusammen, alle blicken gebannt auf den
Fernsehapparat. Egal ob zuhause oder im Ecklokal, die Brasilianer sind
novela-süchtig, sie lieben und hassen die Figuren ihrer Lieblingsserie und
können über die Ereignisse fast genauso lang diskutieren wie über das aktuelle
Fußballspiel. Mehrmals täglich sendet der Marktführer TV Globo seit den frühen
1970er Jahren seine mit großem Aufwand produzierten Novelas. Ihren Ursprung
haben Telenovelas in Kuba, sie sind in vielen lateinamerikanischen Ländern
verbreitet, doch nirgendwo haben sie ähnlichen Erfolg wie in Brasilien. Der
Autor Jens Hildebrandt schreibt im ersten Teil seines Buches über die
historischen Aspekte der Novela genauso wie über das Wirtschaftsimperium des
brasilianischen TV-Produzenten Globo, der seine Vormachtstellung vor allem
während der Diktatur unter Präsident Getúlio Vargas ausbaute. Außerdem
berichtet er über Produktionsabläufe, verschiedene Zuschauergruppen und die Wirkung
der Telenovela. Denn das Format vereint geografische, gesellschaftliche und
kulturelle Aspekte:
Zitat: Aus einem historisch bedingten multikulturellen
Einwanderungsland mit heterogenen Gruppen und Identitäten entwickelte sich u.a.
aufgrund des starken Einflusses der Novela auf das Fernsehpublikum eine eigene
nationale Identität. Die Novelas betreiben demzufolge, ähnlich wie etwa der
Fußball, in höchstem Maße „Nation-Building“. Heute sehen sich die Bürger des
Landes in erster Linie als Brasilianer.
Ein Aspekt der Brasilianität wird
allerdings stark verzerrt dargestellt: je hellhäutiger eine Novelafigur desto
brasilianischer, so scheint es. Farbige Schauspieler spielen zwar gutmütige und
sympathische, aber dennoch untergeordnete Rollen, wie etwa die der Hausangestellten.
Seit 2003 geht es in den Telenovelas verstärkt um aktuelle Themen, Globo
versucht sich als Bildungsfernsehen, die Figuren der Novela bieten
Lösungsmöglichkeiten für diverse Probleme an:
Zitat: So haben beispielsweise in
der Handlung Jugendliche ungeschützten Geschlechtsverkehr und müssen dann mit
den Folgen von Aids kämpfen. Der richtige Umgang mit der Natur wird
angesprochen, genauso wie das Downsyndrom bei einem Zwillingskind, welches
wegen seines Aussehens verstoßen wird (…), der Respekt vor alten Menschen,
Blinden, Schwulen und Lesben.
Eine der beliebtesten Novelas ist für viele
Brasilianer noch immer Escrava Isaura, die Sklavin Isaura, aus den Jahren 1976
und 1977, nach dem gleichnamigen Roman von Bernardo Guimarães. Ein brasilianisches
Märchen, in dem ein junges Mädchen als einzige weiße Sklavin tapfer ihr
Schicksal erträgt:
Zitat: Wenn man die heutigen Erwachsenen nach ihren
Kindheitserinnerungen an die Sklavin Isaura fragt, verbinden alle mit der
Novela sehr positive Gefühle. Wird weiter nach dem realen Anspruch der
Geschichte gefragt, könnte sie sich so für die meisten zugetragen haben. Die
Figur der Isaura als einzige „weiße“ Sklavin unter den „Schwarzen“ kam den
Leuten, mit denen ich sprach, nicht unrealistisch vor. Es wurde mit der
„typischen“ Verwechslung argumentiert (…). Kleinkinder werden durch eine böse
und hinterhältige Intrige vertauscht und wachsen infolgedessen in armen
Verhältnissen auf.
Sichtbare Widersprüche und das bereits erwähnte verzerrte
Bild der Gesellschaft verhindern aber dennoch nicht den großen Erfolg der
Novela. Vielen der Zuschauer ist die Welt der Reichen verschlossen, abends vor
dem Fernseher wollen sie verzaubert werden und ihre eigenen Sorgen und Probleme
vergessen. Jeder Zuschauer findet zumindest eine Figur, mit der er sich
identifizieren kann.
Und noch ein anderer Kunstgriff sorgt dafür, dass sich die
Brasilianer allabendlich vor dem Fernseher versammeln, sie reden mit:
Zitat: Zuschauer
können telefonisch oder schriftlich anhand vorgefertigter Möglichkeiten
entscheiden, wie Nebenhandlungsstränge weitergehen sollen. Das „gefühlte“
Mitspracherecht stellt das Publikum fast auf eine Stufe mit den Darstellern.
Dieser psychologische Effekt bindet die Zuschauer noch stärker an das Format,
was zum Teil Einschaltquoten von fast 100 Prozent zur Folge hat.
Der zweite
weitaus kürzere Teil des Buches widmet sich der mexikanischen Novela und dem
Vergleich der beiden Länder. Hier sieht der Autor vor allem einen grundlegenden
Unterschied: Während es Globo in Brasilien geschafft hat, Zuschauer aus allen
gesellschaftlichen Schichten, unabhängig von Hautfarbe oder Bildungsgrad, für
seine Telenovelas zu begeistern, polarisieren die mexikanischen Varianten
stark. Verkürzt gesagt: hier brasilianischer Pseudorealismus - dort
mexikanischer Kitsch.
Zitat: Die unrealistische und triviale Darstellung der
Figuren, in Verbindung mit ihrer visuellen Überzeichnung sowie die
akustisch-emotionale Dramatisierung einzelner Szenen polarisiert das
Fernsehpublikum. Ein Teil taucht noch stärker in die schöne rosarote Traumwelt
der Novela ein und verliert so langsam den Bezug zur Realität. Der andere Teil
wird von der trivialen Umsetzung des Formates verschreckt.
Ganz Brasilien
glotzt Globo ist keine Urlaubslektüre, das Buch ist 800 Seiten dick. Der Autor
Jens Hildebrandt hat zum Thema Telenovelas promoviert, die vorliegende
Buchausgabe seiner Doktorarbeit ist ungemein ausführlich und detailreich.
Zahlreiche Bilder, die Auswertung zweier Umfragen in Brasilien und Mexiko,
Kurzbeschreibungen Dutzender Telenovelas, ein Glossar und ein gut
recherchiertes Literaturverzeichnis vervollständigen den Text. Auch wenn
einzelne Kapitel unabhängig vom Gesamtkontext lesbar und schlüssig sind, ist
dieses Buch jedoch vor allem Studenten der Publizistik oder Romanistik zu
empfehlen, die sich im Fach Medienwissenschaft intensiver mit Brasilien und da
vor allem mit dem Thema Telenovela auseinandersetzen wollen.
Jens Hildebrandt
Ganz Brasilien glotzt Globo (erschienen im LIT Verlag)