Kontext, 28. November 2014
Er
umgibt uns ständig, erfreut uns an heißen Tagen mit etwas Abkühlung, wirbelt im
Herbst die Blätter durcheinander und kann mit seiner unbändigen Kraft
fürchterliche Schäden anrichten: Der Wind. Der Wind begleitet die Menschheit
seit Anbeginn, beeinflusst unsere Kultur von der Landwirtschaft über die
Technik bis zur Philosophie. Stephan Cartier hat eine Kulturgeschichte des Windes geschrieben, erzählt
von Abenteuern, Irrfahrten und Aberglauben – und erklärt Phänomene, über die
wir bisher wenig nachgedacht haben, weil sie uns alltäglich erscheinen.
Vom
leichten Lüftlerl über die steife Brise bis zum brüllenden Orkan - der Wind
weiß uns immer wieder zu überraschen. Seit der Antike wird er erforscht,
beeinflusst er doch das Leben der Menschen stetig und nachhaltig. Der Wind
selbst ist unsichtbar, wir sehen nur, was er mit uns und der Natur so alles
anstellt. Oder wir bemerken, wenn er einfach einmal nicht da ist:
Zitat:
Die
Gleichsetzung von Sturm und Windstille in ihren Auswirkungen auf den Menschen,
der sich auf das Meer begeben hat, ist ein alter Topos, dem man bereits in
einer Sammlung antiker griechischer Epigramme, der ANTHOLOGIA PALATINA,
begegnen kann. Hier wird beispielsweise von einem Nicophemos berichtet, der bei
Windstille auf dem Meer verdursten muss, weil die Winde sich verschworen haben
- was für Seeleute genauso schlimm sei wie Sturm.
Flaute
- ein Horror für Kapitäne und Seeleute. Das musste auch Johann Wolfgang von
Goethe erleben, bei einer Überfahrt vom sizilianischen Messina nach Neapel. Der
Wind schwieg und das Schiff trieb immer näher an die Felsen der Insel Capri.
Die Lage spitzte sich zu, doch Rettung nahte - in Form eines leichten
Windhauches. Das Schiff entkam den garstigen Klippen. Später verarbeitete
Goethe die Erlebnisse in seinem Text "Italienische Reise". Friedrich
Nietzsche wiederum mochte die Windstille, er fand Gefallen an den griechischen
Halkyonischen Tagen, benannt nach der antiken Geschichte von den Eisvögeln, zu
deren Brutzeit der Gott des Windes, Aiolos, die Winde ruhen ließ. Diese
windstillen Tage rund um die Wintersonnenwende dienten als Phase der Entspannung.
Zitat:
Nietzsche
nutzt diesen Mythos, um sein Ideal der Gelassenheit gegenüber der Hysterie
einer dekadenten Gesellschaft an eine intellektuelle Tradition anzuschließen,
und die Pyrrhonische Skepsis klingt laut nach, wenn er an seinen Freund Franz
Overbeck im Dezember 1888 schreibt, dass das Ende der Selbstfindung und der
Selbstzweifel "die vollkommene Windstille der Seele" sei.
Humorvoll,
eloquent und anschaulich erzählt Stephan Cartier die Geschichte des Windes. Er
verfolgt Spuren, die der Wind in Literatur und Kunst hinterlassen hat und
beschreibt so manch skurille Tradition. Etwa das heidnische Windfüttern, das es
bis ins 19. Jahrhundert in Österreich und in Süddeutschland gab.
Zitat:
Die
Situation vor den hohen Herren des Gerichts war für den Bäcker und Wirt Georg
Hollerspacher nicht eben behaglich. Wer den Eingang zum Tabor, also dem Kerker
für Hexen und Zauberer, der Stadt Feldbach in der Steiermark heute sieht, kann
erahnen, wie sich der Mann vor den Inquisitoren gefühlt haben mag. Die Treppenstufen
führen hinab zu einem Tor, hinter dem es sehr, sehr dunkel aussieht.
Was
hatte der arme Mann getan, dass er sich den Zorn der Hohen Herren auf sich
gezogen hatte? Er hatte versucht, den Wind versöhnlich zu stimmen, sodass es
eine gute Ernte gab, hatte ihm Mehl, Brösel und andere Speisereste in einem
Topf ans Hauseck gestellt. Hexerei, entschied das Gericht.
Mit
Hilfe vieler literarischer Zitate und zahlreicher Abbildungen lässt der Autor
den Leser in die Vergangenheit reisen, ins aerodynamische Laboratorium Gustave
Eiffels, in die Arktis, wo Polarforscher sich mit dem Phänomen des gefühlten
Windes, dem Windchill, beschäftigten, oder zu den Anfängen der Windenergieanlagen,
die ab und zu die Phantasie der Ingenieure etwas zu sehr beflügelten.
Zitat:
Der
größte Phantast dieser Gigantomanie war der deutsche Ingenieur Hermann Honnef.
Schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte er auf dem
Papier Windkraftanlagen, die enorme Höhen erreichten und mehrere Rotoren
kombinierten. Ein geradezu expressionistisch anmutendes Kraftwerk war der 1932
entworfene Riesenturm mit fünf Windrädern, von denen jedes einen Durchmesser
von 160 Metern besitzen sollte und der bis zu 250 Meter in den Himmel hinauf
ragte.
Der
Wind hat den Menschen seit Anbeginn beeinflusst, laut Altem Testament hat er
ihn erst lebendig gemacht, als Hauch Gottes. Er war verantwortlich für
wirtschaftliche Erfolge und landwirtschaftliche Erträge, brachte Dürre oder
Regen.
Zitat:
Die
Begründungen, warum welche Witterungslage welchen Gemütszustand produziert,
variieren, aber stets wird der Wind als die wichtigste Kraft genannt, die die
Launenhaftigkeit produziert. Er dient als globales Stimmungsbarometer.
Ein
schlaues Buch, das versucht, ein alltägliches Phänomen einzuordnen und zu
erklären, in dem es aber auch viel Spielraum für Interpretationen gibt. Wer
alle Kapitel von Windstärke Eins bis Windstärke Zwölf schließlich gelesen hat,
wird hinausgehen, um den Wind auf der Haut zu spüren, er wird den Wind mit
anderen Augen betrachten und seinem Pfeifen, Singen und Raunen mit
aufmerksameren Ohren zuhören. Denn: der Wind, das himmlische Kind, lässt sich
nicht so leicht fangen, er ist eben, was er ist: hier ein fleißiger Antreiber
und dort ein launischer Rumtreiber.
Stephan
Cartier: Der Wind oder Das himmlische Kind. Eine Kulturgeschichte (Transitverlag,
2014)