Zeit finden.

Ist Ihr Leben auch komplett durchgetaktet? Vom Frühstück bis zum Abendessen? Und auch in der sogenannten Freizeit haben Sie Stress, all das unterzubringen, was Ihnen eigentlich Entspannung und Ausgleich bringen soll? Dann geht es Ihnen wie fast allen von uns. Wir haben nie genügend Zeit. Doch was ist Zeit überhaupt? Die US-amerikanische Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell, die bereits mit ihrem ersten Buch namens „Nichts tun“ für Aufsehen gesorgt hat, hat sich nun auf knapp 400 Seiten mit dem Phänomen Zeit auseinandergesetzt. 

Alles beginnt mit Moos. Moos, das sich während des erzwungenen Stillstandes der Covid-Pandemie in einem Pflanztopf an einem eher unwirtlichen Ort in der Wohnung der Autorin – einem dunklen und etwas feuchten Fensterbrett – rund um einen kleinen Hasenohrkaktus gebildet hat. Damals dachte die Autorin erstmals über die Idee für das vorliegende Buch nach. Drei Jahre und viele Gedanken, Gespräche und Diskussionen über Wunder, Rätsel und harte Tatsachen die Zeit betreffend später, wächst das Moos noch immer.

Zitat: Wie ein Gesandter von irgendwoher außerhalb des geltenden Zeitbegriffs hat es meinen Geist mit Fragen von Porosität und Reaktion, von Innen und Außen, von Potenzial und Bedrohung okkupiert. Aber vor allem hat es mir die Zeit wieder zu Bewusstsein gebracht: nicht die monolithische, leere Substanz, von der wir glauben, dass sie jeden Einzelnen von uns überspült, sondern die Art von Zeit, die beginnt und stillsteht, heraufsprudelt, sich in Rissen sammelt und sich zu Gebirgen faltet.

Zeit, das ist für die Autorin also viel mehr als Stunden, Minuten und Sekunden, die unser Leben strukturieren, es ist ein komplexes System, in dem es um Kolonialismus, Umweltzerstörung und Klimawandel genauso geht wie um Kapitalismus und den weltweiten Arbeitsmarkt. Eine Theorie, die Jenny Odell hier immer wieder heranzieht, ist der sogenannte Taylorismus, also die Theorien des US-amerikanischen Unternehmensberaters Frederick Taylor aus dem Jahr 1911, in denen Strategien zur Steigerung der Effizienz von Unternehmen diskutiert werden. Jenny Odell stellt das in Frage: 

Zitat: Die Lohnbeziehung spiegelt dieselben Muster von Empowerment und Disempowerment, die auch alles andere in unserem Leben betreffen: Wer kauft wessen Zeit? Wessen Zeit ist wieviel wert? Wessen Zeitplan soll sich an andere anpassen, und wessen Zeit wird als verfügbar erachtet? Das sind keine individuellen Fragen, sondern kulturelle, historische, und es gibt wenige Möglichkeiten, seine eigene Zeit oder die der anderen zu befreien, ohne über sie nachzudenken.

Es ist keine leichte Kost, die Jenny Odell hier vorlegt. Man braucht viel Konzentration und Geduld, ja, und Zeit, um den teilweise etwas verknoteten Gedankengängen der Autorin zu folgen. Sie ist keine, die rasch auf den Punkt kommt. Dafür ist sie überaus belesen, verquickt Kunst- und Kulturaktionen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus verschiedensten Disziplinen: Philosophie, Naturwissenschaft, Wirtschaft, Politik. Hier wird aus Charlie Chaplins „Modern Times“ zitiert, dort aus einer Episode der Simpsons, hier ein Gedicht von Peter Handke wiedergegeben, dort eine Stelle aus Karl Marx „Das Kapital“.

Durch das ganze Buch zieht sich – in kleinen kursiv geschriebenen Portionen – die Reportage einer Reise der Autorin, von Oakland in Kalifornien geht es im Uhrzeigersinn rund um die Bucht von San Francisco. Zunächst geht es über viele Autobahnen Richtung Süden, vorbei an nichtssagenden Vorstädten und Industriegebieten. Jenny Odell und ihre Begleitung machen immer wieder Pausen und gelangen schließlich an die Pazifikküste. Später entdecken sie eine hochinteressante Bibliothek nahe San Francisco, über die Bay Bridge geht es retour nach Oakland, wo schließlich der Besuch eines Friedhofes mit dazugehörigem sehr speziellem Kolumbarium, also dem Gebäude, in dem die Urnen aufbewahrt werden, die Reise beschließt.

Zitat: Die Wände sind dichte Gitter aus Glaseinfassungen, die den Eindruck einer Bibliothek vermitteln. Anders als dort, wo wir gerade waren, sind hier die „Bücher“ hinter dem Glas Urnen, die so geformt sind, dass sie wie Bücher aussehen, mit Gruppen verschiedener Bände, welche die einzelnen Mitglieder einer Familie enthalten. Um jedes Buch ist eine gewisse Schwere: der Beginn eines Lebens und das Ende eines Lebens. Und die „Buchdeckel“ kann man nicht öffnen.

Zeit und Tod – ein Paar, das stets Hand in Hand geht. Welche Entscheidungen haben diese Menschen getroffen? Haben sie die Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, sinnvoll genutzt? Sind sie vor ihrer Zeit gestorben? Diese und viele andere Fragen versucht die Autorin in diesem letzten Kapitel zu beantworten. 

Es ist jedoch nach der Lektüre dieses Buches nicht ganz klar, was tatsächlich die Intention der Autorin war. Ein Ratgeber, wie man mit seiner Zeit besser umgehen könnte, sollte es nicht sein, das betont Jenny Odell bereits im Vorwort. Die Rezensentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nennt das Buch eine Mischung aus Memoir und Masterarbeit. Dem mag man sich anschließen, es ist wohl eine Art Kulturgeschichte der Zeit, mit vielen Umwegen, Sackgassen und Einbahnen. Hier muss man sich beeilen und an anderer Stelle lohnt es sich, einfach einmal innezuhalten.

Info: Jenny Odell Zeit finden. Jenseits des durchgetakteten Lebens, (C.H.Beck 2023)