Das Tagebuch der Unruhe.

Geschichte einmal anders. Ersin Karabulut – geboren 1981 in Istanbul – zählt zu den erfolgreichsten türkischen Comickünstlern. In seiner nun auf Deutsch vorliegenden Graphic Novel Das Tagebuch der Unruhe verquickt er seine eigene Lebensgeschichte mit seiner Sicht auf die politische Lage in seinem Heimatland. 

Das Tagebuch der Unruhe beginnt mit einem gezeichneten Gedankenexperiment. Was würde Ersin Karabuluts achtjähriges Ich zu seiner Karriere als Comiczeichner sagen, wenn es durch des Autors erwachsene Augen blicken könnte? Lächelnd und in Socken sitzt dieser an seinem Schreibtisch, eine Tasse Tee dampft, während gerade neue Zeichnungen entstehen. Über ihm hat der Achtjährige Herzchen in den Augen, der Mund zu einem breiten Grinsen aufgerissen.

Zitat: Manchmal lasse ich ihn beim Zeichnen zuschauen. Ich bin sicher, das macht ihn sehr glücklich, denn seit mir klar wurde, dass Comics von jemandem geschrieben und gezeichnet werden, und dass das ein Beruf ist, wusste ich: Das will ich machen.


Ersin Karabulut bedient sich in seiner Graphic Novel aller Spielarten, die in diesem Genre möglich sind. Bilder, Gedanken- und Sprechblasen, Traumsequenzen, aber es gibt auch einen Erzähltext. 

Immer wieder spürt der kleine Ersin, dass man in seinem Land und zu jener Zeit, nicht alles tun und sagen kann, was einem in den Sinn kommt. Der Vater weist ihn darauf hin, die Nachbarn seien sehr religiös, da dürfe man dies oder jenes eben nicht. Der Vater selbst zählt zum politisch linken Lager, er verdient vor Ersins Geburt neben seinem Job als Lehrer mit kleinen grafischen Arbeiten etwas dazu – gerät hier aber bald zwischen die Fronten. Diese Szenen sind sehr eindringlich und im Gegensatz zum Rest des Buches in Grautönen gezeichnet, man spürt die Angst des Vaters in jedem der Panels – also jedem Einzelbild.

Zitat: Als mein Papa erfuhr, dass der Schuss, der gerade gefallen war, seinen besten Freund getötet hatte, hielt er es in seinem Studio nicht länger aus. Er ließ alles stehen und liegen und rannte davon. Er nahm meine Mama und meine Schwester und sie blieben eine Weile bei verschiedenen Verwandten. Ein paar Wochen lang glaubte mein Vater bei jedem Klopfen an der Tür, jemand sei gekommen, um ihn zu töten.


Comics sind in der Kindheit des Autors, der in einer ärmeren Gegend Istanbuls aufgewachsen ist, stets beliebte Tauschobjekte. Die Superhelden aus den Heften begleiten Ersin Karabulut auf seiner Reise durch die Geschichte, bestärken ihn in seinem Wunsch, Zeichner zu werden, stehen ihm mit Rat und Tat zur Seite. Mit 16 wird sein erster Comic in einem Magazin veröffentlich. In einer witzigen Sequenz zeigt Ersin Karabulut seine Freude. 

Zitat: Etwas, das ich gezeichnet hatte, galt als veröffentlichungsreif und war tatsächlich gedruckt worden! Ich nahm dieses Magazin tagelang mit ins Bett. Ich lebte mit ihm. 

Das Magazin wird geherzt, das Magazin und Ersin sitzen in einem Restaurant und prosten sich zu, sie gehen eng umschlungen spazieren und gemeinsam ins Kino. Doch die Eltern, beide arbeiten in einer Grundschule, sind zunächst gegen diesen Berufswunsch. Ersin Karabulut setzt sich schließlich jedoch durch, studiert Grafisches Design an einer Kunstuniversität.

Spannend in der Graphic Novel Tagebuch der Unruhe sind jene Teile, in denen der Autor die jeweilige politische Lage einfließen lässt – stets aus dem Blickwinkel seines jüngeren Ichs. Zahlreiche Umbrüche sind zu verarbeiten, die Eltern sind „kemalistisch“, also westlich orientiert, für die Trennung von Staat und Religion und Anhänger von Kemal Atatürk, der 1923 die türkische Republik gründete. In den 1990ern tritt ein Mann namens Recep Tayyip Erdogan auf den Plan. In der Türkei waren bis zu Erdogans Amtsantritt als Premierminister im Jahr 2002 politische Karikaturen und Comics weitgehend akzeptiert. Als ein Comiczeichner Erdogan jedoch als Katze darstellt, hat das Konsequenzen. Ersin und seine Kollegen reagieren mit einer Provokation. Auf dem Cover der Zeitschrift, für die Ersin Karabulut damals arbeitet, ist Erdogan neunmal als Tier abgebildet: als Pinguin, Frosch, Kamel, Affe, Schlange, Ente, Elefant, Giraffe und Kuh.

Zitat: Ich war total angespannt. Ich misstraute den Leuten in der Nachbarschaft. Kannten die mich alle? Oder starrten sie mich an, weil ich hier der einzige Langhaarige war? Oder starrten sie mich überhaupt nicht an?

Die Klage gegen die Redaktion wird ein paar Monate später fallengelassen. Ersin Karabulut gilt bald als einer der einflussreichsten jungen Comicautoren des Landes – und endlich lernt der etwas verklemmte junge Mann auch Mädchen kennen – er ist heute Autor von mehreren Comic-Anthologien und Graphic Novels. Sein Zeichenstil ist ein spannendes Zusammenspiel aus extrem comichaften Figuren mit Kulleraugen und riesenhaften Zähnen, oft wenig schmeichelhafter und übertriebener Physionomie sowie realistischer Darstellung von Personen und Orten. Das Tagebuch der Unruhe ist der erste Teil einer geplanten Trilogie. Man darf gespannt sein.

Info: Ersin Karabulut Das Tagebuch der Unruhe, übersetzt von Christoph Haas (Carlsen Comic 2023)